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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Der Regen fiel gleichmäßig und in dicken Tropfen. Corbett versank in nachdenkliches Schweigen, bis er auf einen Parkplatz einbog, der mehr Fahrzeuge enthielt, als Shan je an einem einzigen Ort gesehen hatte. Sie stiegen aus und näherten sich einem riesigen, langgestreckten Gebäude. Es war dermaßen groß, daß Shan das andere Ende im grauen Dunst nicht erkennen konnte.
    Durch eine elegante Glastür gelangten sie ins Innere. Shan verharrte staunend. Am Fuß eines Wasserfalls wuchsen Bäume und Blumen. Der Boden bestand aus Marmor. Eine anmutige Treppenkonstruktion wand sich um die Kaskade einem gewölbten Glasdach entgegen.
    »Man kann hier in Ruhe Kaffee trinken und sich unterhalten.«
    Shan rührte sich noch immer nicht vom Fleck, sondern betrachtete das eigentümliche Gebäude und die vielen Menschen, die in der gewaltigen Halle ein und aus gingen. Das waren Geschäfte, erkannte er, Dutzende von Läden, zwei Etagen voller Geschäfte. Als er sich nach Corbett umdrehte, war dieser bereits ein Stück weitergegangen. Shan folgte ihm langsam. Fast alles, was er sah, stellte ihn vor ein Rätsel. Ein paar Jugendlichekamen ihm entgegen und plauderten miteinander, anscheinend völlig zwanglos, trotz der Tatsache, daß ihre Gesichter aus irgendeinem Grund von Messingringen und -kugeln durchbohrt waren. Shan wandte den Kopf und wurde rot, als er in einem Fenster mehrere Frauen stehen sah, die nur ihre Unterwäsche trugen. Dann fielen ihm in einem anderen Fenster nahezu identische Frauen auf, diesmal aber mit Pullovern bekleidet, und er begriff, daß es sich um täuschend echt wirkende Puppen handelte. Laut Preisschild kostete einer der Pullover nur ein paar Cents weniger als dreihundert Dollar, was mehr war, als die meisten Tibeter in einem ganzen Jahr verdienten.
    Corbett führte ihn in ein Café und bestellte für sie beide etwas zu trinken. »Warum haben Sie mich an diesen Ort voller Geschäfte gebracht?« fragte Shan.
    »Ich dachte mir, Sie würden vielleicht gern Amerika kennenlernen«, sagte Corbett mit seltsam verlegenem Lächeln und wies auf einen Tisch. Dann wurde er wieder ernst. »Außerdem hat Abigail hier gearbeitet, bevor sie den Job als Erzieherin bekam. Die Leute hier haben sie gekannt und mir von ihr erzählt, so daß sie für mich zu einer realen Person wurde.«
    Was wollte Corbett dann noch hier? dachte Shan. Nicht nach Informationen suchen, denn das hatte er bereits erledigt. Es war, als würde er dem Mädchen seine Reverenz erweisen, um sich auf ganz persönliche Art dafür zu entschuldigen, daß es ihm nicht gelungen war, ihren Mörder zur Rechenschaft zu ziehen.
    »Ich konnte unmöglich an einen Zufall glauben. Das Kindermädchen der Familie stirbt in derselben Nacht, in der die Artefakte gestohlen werden. Aber Punji ist es nicht gewesen. Sie hat uns die Wahrheit gesagt.« Corbett schien McDowell mittlerweile am liebsten bei ihrem Spitznamen zu nennen, als würde er sich ihr seit ihrem Tod enger verbunden fühlen. »Sie und Lodi haben die Artefakte mitgenommen, wußten aber nichts vom dem Mädchen. War es doch bloß ein Zufall? Habe ich mich geirrt?«
    »Deshalb sind Sie nach Tibet gekommen, nicht wahr?« fragte Shan, als eine Kellnerin ihnen zwei dampfende Becher servierte. »Wegen des Mädchens, nicht wegen des Diebstahls.«
    Corbett dachte lange nach, bevor er antwortete. »Ich hätte die Jungs auf die Spur der Artefakte ansetzen können. Aber ich habe jede Nacht das Gesicht des Mädchens gesehen, wie sie da im Wasser trieb. Als ob sie mich anschauen würde. Als ob sie mir etwas sagen wollte, ihre Lippen aber nicht mehr bewegen konnte.« Er trank einen Schluck. »Wegen ihr bin ich nach Tibet gekommen. Geblieben bin ich aus einem anderen Grund.«
    Sein Mobiltelefon klingelte. Corbett nahm das Gespräch an und hörte aufmerksam zu. Er hielt das Gerät fest ans Ohr gepreßt und gab immer wieder kleine Laute der Zustimmung von sich. Schließlich trennte er die Verbindung und starrte in seine Tasse. »Die Bänder waren noch alle da, und es gibt dort sogar eine Maschine, um sie im Schnelldurchlauf anzusehen. Der diensthabende Wachmann hat den Jungs geholfen. Ich dachte, es würde den ganzen Tag dauern.« Er sprach leise und klang sehr mutlos.
    »Sie wußten doch schon vorher, wer es sein würde. Wir wußten es beide«, sagte Shan. »Es kam nur eine Person in Betracht.«
    »Es könnte genausogut der liebe Gott persönlich sein. Er ist unangreifbar. Ohne einen unmittelbaren Beweis wird man mich niemals

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