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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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mit der Aufschrift »Adrian Croft«.
    »Überwachungskameras«, sagte Corbett und deutete auf lange schwarze Kästen, die an mehreren der Betonsäulen befestigt waren. »Da werden die Jungs sich aber freuen.« Er bemerkte Shans fragenden Blick. »Wir besorgen uns die Bänder und schauen uns an, wer auf dem Stellplatz dieses Phantoms geparkt hat. Außerdem können wir jederzeit die Geschäftsführerin befragen, sofern es uns gelingt, sie ausfindig zu machen.«
    »Kennen Sie die Frau?«
    »Ihr Bild ist in der Akte. Sie ist Halbchinesin.«
    Sie setzten sich in ein kleines Bistro im Erdgeschoß und tranken Tee. Shan versuchte, den Eingang im Blick zu behalten, ertappte sich aber immer wieder dabei, daß er den startenden Wasserflugzeugen hinterhersah. Weit weg von hier. Er wäre auch gern weit weg von hier, an einem Ort, an dem die Menschen nicht logen, stahlen oder mordeten – oder vorgaben, Phantome zu sein. Gendun hatte gewollt, daß er sich in eine Höhle zurückzog, aber ein paar Stunden am Geburtstag des Dalai Lama hatten alles verändert.
    Auch Corbett schien sich zwingen zu müssen, nicht die Flugzeuge zu beobachten.
    »Sie haben gesagt, Ihre Tante habe Ihnen ein Haus auf einer Insel vermacht.«
    »Ein kleines Ferienhaus. Die Mauern sind fast vollständig von blühenden Ziersträuchern überwuchert. Man kann weit übers Meer schauen, und manchmal sieht man Wale.«
    »War sie diejenige, die Ihnen das Malen beigebracht hat?«
    Corbett wurde sehr still. »Es ist eine andere Welt. Dies ist Amerika. Dies ist, was ich in Amerika tue. Nicht, was ich jetztbin«, sagte er, und Shan begriff, daß er nicht von seiner Tante, sondern von Bumpari sprach. »Bevor ich aus dem Dorf weggegangen bin, haben Liya und ich uns unterhalten. Sie hat etwas sehr Weises gesagt. Sie sagte, ihrer Meinung nach sei ein Ermittler das genaue Gegenteil eines Künstlers.«
    »Vielleicht wollte sie zum Ausdruck bringen, daß manche Rätsel eher einen Künstler erfordern als einen Ermittler. Daß ein Künstler über andere Möglichkeiten verfügt, sich der Wahrheit zu nähern.«
    »Da oben in den Bergen habe ich gelernt, daß die Fakten nur ein Teil der Wahrheit sind – und nicht einmal der wichtigste Teil.« Corbett blickte in seine Tasse. »Ich habe mich nie bei Liya bedankt. Das müssen Sie für mich übernehmen.«
    »Vielleicht sehen Sie Liya ja wieder.«
    »Ich? Keine Chance. Falls es Ihnen vorhin nicht aufgefallen sein sollte, ich befinde mich auf dem absteigenden Ast. Nach dieser Sache werde ich alten Damen dabei helfen dürfen, ihre Zähne zu suchen.« Er senkte jäh wieder den Blick. »Das ist Crofts Geschäftsführerin.«
    Shan musterte die zierliche, elegant gekleidete Asiatin und stand auf, bevor Corbett ihn davon abhalten konnte. Er wartete am Tresen bei den Servietten und dem Würfelzucker, bis sie sich einen Tisch gesucht hatte, ging geradewegs zu ihr und nahm gegenüber von ihr Platz.
    »Ich heiße Shan«, sagte er leise und öffnete den obersten Hemdknopf. »Sie arbeiten doch oben in diesem Antiquitätenladen.« Er zog das gau hervor, das immer um seinen Hals hing, und zeigte es ihr.
    »Wissen Sie überhaupt, was das ist?« fragte die Frau. Sie wirkte verärgert und gleichzeitig belustigt.
    »Es ist sehr alt und sehr wertvoll. Ich weiß, wo es mehr davon gibt.«
    Interessiert betrachtete sie das Gebetsamulett, streckte einen Finger danach aus, berührte es letztlich aber doch nicht.
    »Wir kaufen nichts«, verkündete sie ungehalten. »Sie sollten gehen. Das ist nicht unsere Art, Geschäfte zu machen. Ich könnte den Sicherheitsdienst rufen.«
    »Nehmen Sie mich in Ihren Ausstellungsraum mit. Zeigen Sie mir, wonach Sie suchen. Ich kann alles mögliche besorgen, ob tibetisch oder chinesisch.«
    Sie probierte von ihrem Salat, kaute und wies mit der Gabel auf ihn. »Wir werden nur im Auftrag tätig. Es gibt keinen Ausstellungsraum. Wir besorgen, was gewünscht wird. Und nach Gebetsmedaillons aus dem vierzehnten Jahrhundert besteht derzeit keine Nachfrage«, sagte sie mit Blick auf sein gau . »Sie kommen drei oder vier Jahre zu spät.« Sie deutete mit der Gabel auf den Ausgang. Shan seufzte, stand auf und verließ das Bistro.
    Zehn Minuten später gesellte Corbett sich beim Wagen zu ihm und behielt die Fenster der obersten Etage im Blick, während Shan ihm berichtete, was die Frau gesagt hatte. Dann rief er Bailey an und befahl ihm, sich sofort um die Bänder der Überwachungskameras des Gebäudes zu kümmern.
    Sie fuhren wieder los.

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