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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Liebe, die Shan nicht verstanden hatte. Über einer Tür hatte die riesige Skulptur eines violetten Fisches gehangen. Unter dem Gleis einer Hochbahn war ihm ein kaum bekleideter Mann aufgefallen, der schlafend in einem metallenen Einkaufswagen gelegen hatte. Die ernsten Uniformierten, die nun hier am Eingang standen, hatten eine Hautfarbe wie dunkle Schokolade.
    Als sie die FBI-Abteilung im dritten Stock betraten, redete Corbett immer noch wie ein Wasserfall. Er sprach zwar leiser als üblich, plauderte aber beharrlich über die Stadt und das Wetter, die allgegenwärtigen Fähren und die nahen Berge, bis Shan begriff, daß Corbett vermeiden wollte, die anderen Leute anzusehen, die gespannt über die Trennwände des Großraumbüros schauten. Dann durchquerten sie einen großen zentralen Raum voller Computerterminals. Manche der Beamten, die dort saßen, ließen Corbett und Shan nicht aus den Augen. Andere hoben nur kurz den Kopf, verzogen das Gesicht und wandten sich wieder ab.
    Corbett brachte Shan in ein kleines, fensterloses Besprechungszimmer, in dem lediglich ein großer Tisch mit Kunststoffoberfläche, Plastikstühle mit dünner, schäbiger Polsterung und ein verschrammter hölzerner Aktenbock mit einem Telefon standen. Das zugehörige Telefonbuch hatte gelbe Seiten.
    Der Amerikaner bat Shan, einen Moment zu warten, und ging hinaus. Nach einigen Minuten nahm Shan das dicke Telefonbuch, legte es vor sich auf den Tisch und schlug es wahllos auf. Hat Ihr Haustier ein Geruchsproblem? begann der erste Eintrag, der ihm auffiel. Er blätterte weiter. Machen Sie Ihre Angelegenheit zu unserer! Shan las es mehrere Male, verstand aber nicht so recht, was gemeint war. Neugierig und verwirrt beugte er sich vor und überflog die Seiten. Es ging offenbar um Dienstleistungs- und Verkaufsangebote, wenngleich er sich unter mehr als der Hälfte der Kategorien kaum etwas vorstellen konnte. Er versuchte soeben, eine große Anzeige zu entziffern, deren Überschrift Ein Hektar mobiler Wohnkomfort lautete, als Corbett mit seinen beiden Assistenten und einem dritten, mürrisch wirkenden Mann eintrat, der Shan kühl zunickte. Über seinem dicken Bauch hing eine rote Krawatte. Er hatte eine dünne Akte mitgebracht, die er nun auf den Tisch warf.
    »Mr. Yun …«, setzte er an.
    »Shan«, fiel Corbett ihm ins Wort. »Der Familienname steht an erster Stelle.«
    Der Mann würdigte Corbett keines Blicks, fing aber von vorn an. »Mr. Shan, ich fürchte, Agent Corbetts Entscheidung,Sie auf Kosten der amerikanischen Steuerzahler aus China einfliegen zu lassen, ist ein wenig überstürzt gewesen. Ich war im Urlaub, daher konnte er keine Rücksprache mit mir halten. Wenn ich richtig verstanden habe, rechnet er damit, den an unserem Mr. Dolan begangenen Diebstahl aufzuklären, indem er irgendein altes Wandgemälde sucht. Er sagt, Sie beide seien sicher, daß die Dolan-Artefakte nach China verschifft wurden, obwohl mir nicht ganz klar ist, was man in China mit noch mehr chinesischer Kunst anfangen will.« Er hielt inne, als wolle er den anderen Gelegenheit zum Lachen geben.
    »Tibetisch«, murmelte Corbett. »Es war tibetische Kunst.«
    Der Mann ignorierte ihn. »Er scheint Sie für eine Art Zauberer zu halten. Ein chinesischer Superbulle, was?« Er beäugte Shan skeptisch.
    Shan zwang sich, nicht zu Corbett zu schauen. Er hatte seinen Vorgesetzten über die Einzelheiten ihrer Ermittlungen im unklaren gelassen und Shan keineswegs als Zeugen präsentiert.
    Der dicke Mann bedachte Corbett mit einem ungehaltenen Blick und seufzte. »Ich habe ja durchaus Verständnis dafür, daß Sie gern einmal nach Amerika wollten. Und ich bezweifle nicht, daß Sie in Ihrem Land zu den führenden Untersuchungsbeamten zählen.« Der Mann musterte Shans billige Kleidung und die vernarbten, schwieligen Hände. »Wie dem auch sei«, fuhr er etwas zurückhaltender fort. »Wir finden bestimmt ein paar schöne Souvenirs. Für wichtige Besucher gibt es bei uns Briefbeschwerer und Anstecknadeln. Vielleicht kann jemand ja eine Führung durch unser Labor oder ein Treffen mit dem chinesischen Konsul organisieren. Dieses Verbrechen wurde hier in den USA verübt. Vielen Dank für Ihr Interesse.«
    Wieder mußte Shan sich zwingen, nicht Corbett anzusehen.
    »Ist Ihnen bewußt, daß im Zusammenhang mit dem Dolan-Raub ein weiterer Mord begangen wurde?« fragte Shan ernst. »In China, vor drei Tagen.«
    »Ein weiterer?« wiederholte der Mann und warf Corbett einen wütenden Blick zu.

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