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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Gewißheit haben.«
    »Was für Markierungen? Sie haben uns nie irgendwelche Markierungen gezeigt.«
    »Die Handabdrücke. Man hat darin mit Holzkohle hauchdünne Linien gezogen, weil man ursprünglich eine Karte zeichnen wollte, die zur anderen Hälfte des thangka passen und das Rätsel des amban vervollständigen würde. Aber seine Erkrankung hat alles verändert. Er ließ sich nach Norden bringen unddort seine Ermordung vortäuschen, damit keine Truppen in Lhadrung auftauchen würden, um nach ihm zu suchen. Dann aber ist er nach Zhoka heimgekehrt. Den Schatz hat er nie abgeschickt, denn er ist gestorben. Entlang eines der Daumenabdrücke stehen winzige tibetische Worte, die man auf dem rissigen Stoff eher ahnen als tatsächlich entziffern kann. Sie besagen, der Abt habe die Ruhe des Todes gefunden.«
    Corbett starrte ihn ungläubig an und wandte sich wieder zum schwarzen Wasser um. »Sie haben es die ganze Zeit gewußt«, sagte er tonlos. »Deshalb sind Sie so bereitwillig mitgekommen. Sie wollten ihm eine Falle stellen.«
    »Sie wissen selbst, daß man Dolan in Amerika niemals zur Rechenschaft ziehen wird.«
    »Sie Mistkerl. Sie haben es von vornherein geplant.« Seine Verwirrung schien sich in Wut zu verwandeln, aber dann stieß er ein hohles Lachen aus. Danach herrschte Schweigen, und sie beobachteten beide, wie die Flut durch die schmale Rinne schoß.
    »Wenn schon in Amerika kaum eine Chance auf Gerechtigkeit besteht, dürfte die Aussicht in China sogar noch geringer sein«, sagte Corbett schließlich.
    »Er reist nicht nach China«, entgegnete Shan. »Er reist nach Tibet.«
    Corbett sah ihn an, als würde er seinen Ohren nicht trauen. Dann bückte er sich, pflückte eine kleine rosafarbene Blume und warf sie hinunter ins Wasser.
    Vier Stunden später saß Shan neben Corbett in der Kabine, schaute aus dem Fenster und gähnte, als das Flugzeug zu der niedrigen Wolkendecke aufstieg. Während seines Aufenthalts in Amerika hatte er höchstens sechs Stunden geschlafen und zu keinem Zeitpunkt die Sonne gesehen.

Kapitel Achtzehn
    Shan schlief fast während der gesamten Rückreise, und als sie am Ende der Nacht das Tal von Lhadrung erreichten, kam es ihm so vor, als würde er ein bayal betreten, eines der verborgenen Länder. Die Morgendämmerung hüllte das Tal in einen blaßroten und goldenen Schimmer, die Lichter der fernen Stadt funkelten wie Juwelen, und die schattigen Berge wirkten wie Wächter, die den Rest der Welt aussperrten. Am liebsten hätte Shan innegehalten und sich den Anblick dauerhaft eingeprägt, denn schon bald würde die Sonne grell vom Himmel scheinen und das geheime Land der Heiligen in ein trockenes, staubiges Tal verwandeln, in dem er Tyrannen, Dieben und Mördern gegenübertreten und die ausgemergelten Gesichter der Tibeter verkraften mußte.
    Doch irgend etwas hatte sich verändert. Als sie den Stadtrand erreichten, spielten wie immer Kinder im leeren Flußbett, aber diesmal trugen sie leuchtendweiße T-Shirts und hatten einen nagelneuen Fußball. Beim ersten Häuserblock lief ein lächelnder Teenager vor den Geschäften entlang und reckte ein kleines silbernes Flugzeug über den Kopf. Auf dem Platz vor dem Verwaltungsgebäude standen einige Frauen beisammen und bewunderten die glänzenden neuen Schlüsselanhänger, die sie in den Händen hielten, und ein alter Mann beobachtete einen Jungen, dessen Spielzeughubschrauber aus eigener Kraft an einem langen Draht in die Luft stieg.
    Als Shan ein vertrautes Gesicht entdeckte, ließ er Corbett den Wagen anhalten und stieg aus.
    »Tashi«, sagte Shan und legte dem Spitzel eine Hand auf die Schulter. »Was ist hier passiert?« Der Mann reagierte erst, als Shan die Frage wiederholte.
    »Dieser berühmte Amerikaner hat sich auf die Treppegestellt, Mao eine Hand auf den Kopf gelegt und eine Rede darüber gehalten, wie großartig die Bevölkerung von Lhadrung sei«, berichtete Tashi ungläubig. »Dann hat er aus seinen Tüten Geschenke verteilt. Sein chinesischer Fahrer hat mir erzählt, daß der Amerikaner den Geschenkartikelladen am Flughafen leer gekauft hat. Alles, was da war. Sie haben es einfach in Tüten gestopft. Er ist mit einem eigenen Düsenflugzeug angereist.«
    Shan war vollkommen verblüfft. Dolan hatte sie auf dem Weg nach Tibet überholt.
    »Der Amerikaner sagte, er sei der heilige Nikolaus, aber keiner wußte, was das heißen sollte. Er ist verrückt. Als Soldaten kamen, um ihn von den Stufen zu vertreiben, hat er sie ebenfalls

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