Der verlorene Sohn von Tibet
beschenkt, und als die Tüten leer waren, hat er amerikanisches Geld verteilt.« Tashi zog einen Dollarschein aus der Tasche und schwenkte ihn wie einen kleinen Wimpel.
»Was machst du hier?« fragte Shan und ließ den Blick über den Platz schweifen. Tashi hielt womöglich nach Surya oder purbas Ausschau oder wollte mehr über die versteckten Artefakte in Erfahrung bringen.
»Was machst du hier?« fragte Tashi und schaute verstohlen zu den oberen Etagen der Bezirksverwaltung. Sollte er etwa nach Shan suchen?
»Wo sind die Gefangenen?« fragte Shan.
»Sie arbeiten immer noch bei den Klippen im unteren Teil des Tals. Es heißt, der Bergbuddha in den Hügeln regt sich. In der Nähe der Schule wurde ein Geräteschuppen aufgebrochen. Man hat Seile gestohlen.« Tashi klang verwirrt. »Ming hat einen jungen Hirten für Informationen über Orte bezahlt, an denen sich eine große Statue verstecken ließe.« Als er Shan ansah, wirkte sein Blick leer. »Ich habe Angst.«
Shan musterte ihn wortlos, bis der Spitzel sich abwandte und den Kopf senkte. »Tashi«, sagte er. »Auch ich werde dir etwas schenken. Etwas, das dir vermutlich seit vielen Jahren niemand mehr entgegengebracht hat.« Tashi blickte auf. »In dem, was du sagst, ist niemals etwas von dir selbst. Du bist nur ein Übermittler. Aber du kannst das ändern, und zwar sofort, denn ich werde dir Vertrauen schenken. Ich werde dir etwas erzählen,und dann werde ich dich bitten, eine Lüge zu verbreiten, um den Tibetern in den Bergen zu helfen.«
Gequält verzog Tashi das Gesicht, sagte jedoch nichts. Shan fuhr leise und hastig fort und redete fünf Minuten lang auf ihn ein. Als er fertig war, hob Tashi die Dollarnote und wies auf die Pyramide, die darauf abgebildet war. »Sieh dir das an. Warum drucken die Amerikaner einen Tempel auf ihr Geld?«
»Der Mann, von dem dieses Geschenk stammt, hat Punji McDowell ermorden lassen.«
Bevor Tashi etwas darauf erwiderte, hob er den Schein dichter vor den Kopf, so daß seine Lippen verdeckt wurden. »Die Gerüchte um ihren Tod sind nicht amtlich anerkannt worden.« Er warf Shan einen bedeutungsvollen Blick zu.
Es war eine Warnung. Yao hatte Peking mitgeteilt, was in Zhoka geschehen war, doch die Behörden hatten nicht zugelassen, daß sein Bericht offiziell zu den Akten genommen wurde.
»Mein Großvater hat mir mal von ausländischen Prinzen erzählt, die nach Tibet kamen, um sich eine Braut zu holen, einen besonderen Lama oder ein bestimmtes Amulett.« Tashi sprach nun zu dem langhaarigen Mann auf der Vorderseite der Banknote. »Auf ihren Reisen hinterließen sie eine Spur der Verwüstung, aber wenn sie gefunden hatten, wonach sie suchten, sind sie stets wieder abgezogen.«
»Wie geht es deiner Mutter, Tashi?« fragte Shan.
Der Spitzel seufzte laut, beugte sich zu dem Mann auf dem Geldschein vor und flüsterte ihm etwas zu. »Er trägt eine kleine Pistole unter dem Hosenbein, direkt über dem Knöchel. Der Fahrer hat es unterwegs gesehen.«
Als sie eine halbe Stunde später beim Gästehaus eintrafen, standen dort zwei neue Fahrzeuge geparkt, funkelnde weiße Toyota Land Cruiser, wie man sie am Flughafen von Lhasa mieten konnte. Shan folgte Corbett langsam durch das Tor und war überrascht, wie nervös er wurde. Yao sei dort, hatte Corbett erklärt, und sie würden besprechen müssen, was in Seattle vorgefallen war. Doch Shan blieb im Schatten der Mauer stehen und schaute sich auf dem Innenhof um.
Die Säuberungsaktion schien sich dem Ende zuzuneigen. Lediglich drei von Mings Leuten waren zu sehen, wie sie an dem Brettertisch neben einem kleinen Stapel Artefakte saßen und mit Zangen und Brechstangen lustlos kleine Statuen aufbogen. Auf der anderen Seite des Hofs brannte in dem Stahlfaß abermals ein Feuer, und daneben saß auf einer Bank ein einzelner Soldat. Sechs Meter von der Tonne entfernt arbeiteten vier Tibeter an einem Schutthaufen, dessen Bestandteile nicht brennbar waren. Sie sonderten Metallreste aus, die in Kisten zur Wiederverwertung abtransportiert werden sollten, und warfen Keramiken in Richtung der Mauer, wo ein Mann sie mit einem Vorschlaghammer zertrümmerte.
Shan begriff mit einemmal, weshalb er so nervös war. Er konnte Ko nirgendwo entdecken. Dann drehte der Mann mit dem großen Hammer sich um, und Shan sah sein Gesicht. Sein Sohn vernichtete die Keramikfiguren, aber er lächelte nicht dabei, und in seinem Blick lag keine Verachtung für die Tibeter. Er arbeitete mit nüchterner, fast zorniger
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