Der verlorene Sohn von Tibet
besagte Zeitschrift. Darin finden sich Fotos derselben Kunstgegenstände. Und wir haben die beeidigten Aussagen der tibetischen Künstler, die für Sie und Ming die Fälschungen angefertigt haben.« Der letzte Satz war wiederum eine Lüge.
Dolan ballte die Fäuste.
»Mal sehen, wer hier wen fertigmacht«, sagte Corbett. »Die Versicherungsgesellschaft wird den Fall erneut untersuchen. Versicherungsbetrug ist ein schweres Verbrechen.«
»Es hatte nichts mit der Versicherung zu tun«, knurrte Dolan.
»Wir alle würden uns das lieber ersparen«, pflichtete Corbett ihm bei, »aber ich schätze, Versicherungsbetrug ist besser als gar nichts.«
»Wissen Sie, wie viele Anwälte ich habe? Ich muß mich nicht selbst mit irgendwelchen sturen Bürokraten herumschlagen.« Dolan stand auf, ging zu einem kleinen Schrank, der in einer der Ecken stand, und holte daraus eine Flasche Whiskey hervor. »Wo ist Ming?« fragte er mit etwas ruhigerer Stimme, während er sich einen Drink einschenkte.
»In Lhadrung«, sagte Shan. »Er gibt Fernsehinterviews und nimmt Glückwunschanrufe aus Peking entgegen. Er hat das lange verschollene Grab des amban entdeckt.«
Die Neuigkeit schien Dolan zu amüsieren. »Ein weiteres Ausstellungsstück für meinen neuen Pekinger Museumsflügel«, stellte er mit frostigem Lächeln fest und leerte sein Glas. »Danke, daß Sie mir sein Geschenk gebracht haben.« Er stellte das Glas ab und deutete auf die Tür. »Ich bin ein vielbeschäftigter Mann.«
»Es gab noch etwas aus Lhadrung«, sagte Shan gerade so laut, daß Dolan es hören konnte. »Ein altes thangka .«
Dolan erstarrte. Dann goß er sich noch einen Whiskey ein, kehrte zum Couchtisch zurück, setzte sich und nahm die kleine Götterstatue. »Im Laufe meiner langjährigen Sammlertätigkeithabe ich viel über Schönheit gelernt«, sagte er zu der Figur. »Es geht dabei nur um Seltenheit. Wenn Sie das weltweit einzige Exemplar eines Gegenstands besitzen, ist es automatisch schön, ganz gleich, worum es sich handelt. Glauben Sie mir ruhig.« Er sprach in sehr eindringlichem Tonfall, als erwarte er nicht, daß man ihn auf Anhieb verstehen würde. »Nehmen Sie beispielsweise einen Rembrandt oder eine Vase aus der Tang-Dynastie. Falls jeder sie hätte, wären sie nicht schön, sondern wertloser Plunder wie irgendein Löffel oder eine Flasche.«
»Das macht mich traurig«, sagte Shan.
Dolan durchbohrte ihn mit einem wütenden Blick, als habe Shan ihn beleidigt. »Welches thangka ?« fragte er unvermittelt.
Shan zog den Stoffbeutel aus der Tüte, nahm das Gemälde heraus und entrollte es auf dem Tisch.
Einen Moment lang schien Dolan nichts anderes im Raum mehr wahrzunehmen, nur noch das alte, ausgefranste thangka . Er beugte sich vor und studierte es genau. Seine Augen funkelten vor Erregung.
»Gehen wir in meine Bibliothek«, sagte er mit einer Geste in Richtung des Nachbarraums. »Der Tisch dort ist besser geeignet.« Er nahm das thangka und führte sie in ein Zimmer voller Bücherregale, in dessen Mitte ein breiter, dunkler Holztisch stand. Dolan legte das Gemälde darauf, zog eine Gelenkleuchte heran und hielt inne.
»Ich lasse uns Kaffee bringen«, sagte er, ging weg und kam nach weniger als einer Minute zurück. »Diese Dinger tauchen häufiger mal auf«, stellte er mit Blick auf das thangka beiläufig fest. »Wie Treibgut der Vergangenheit. Es sieht echt aus und scheint recht alt zu sein. Aber es ist stark beschädigt und besitzt keinen echten Wert. Manche Historiker benutzen solche Fragmente zu Forschungszwecken. Ich könnte Ihnen hundert Dollar für Ihre Mühe anbieten und dafür sorgen, daß es in die richtigen Hände gelangt.«
Während er sprach, kam eine Frau in grauweißer Tracht ins Zimmer und brachte ein Tablett, auf dem eine Kanne, drei Tassen und ein Teller mit Keksen standen. Sie schenkte den Kaffee ein. Gerade als sie Shan eine Tasse reichen wollte, ertönte irgendwohinter dem Haus ein lauter Knall. Die Frau zuckte zusammen und lief hinaus. Dolan stellte seine Tasse ab und folgte ihr.
»Das war ein Schuß!« rief Corbett und rannte hinterher. Shan schloß sich an.
Sie kamen durch eine riesige Küche und von dort aus durch eine Hintertür nach draußen. Dolan stand auf dem Rasen und sprach mit einem Mann, der eine Schrotflinte hielt. Es seien die Eichhörnchen, sagte Dolan gleich darauf, als sie ihn erreichten. Der Gärtner habe beschlossen, etwas gegen die Eichhörnchen zu unternehmen, weil diese ständig die Nüsse
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