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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Miene und schwang den Hammer gleichmäßig und routiniert, wie man es von einem Sträfling erwarten würde.
    Als Corbett ins Sonnenlicht vor dem Gebäude trat, stand der Soldat auf und zog sich die Uniform glatt. Ko bemerkte es, ließ den Hammer sinken und sah zu dem Amerikaner. Dann kniff er die Augen zusammen und starrte in den Schatten, wo Shan stand. Als auch Shan vortrat, schaute Ko ihm zwar kurz ins Gesicht, ließ aber keinerlei Regung erkennen und grüßte ihn nicht. Dann senkte er den Blick und holte wieder mit dem Hammer aus.
    Als Shan sich ihm näherte, stellte Ko den Hammer hinter sich ab, als sei es ihm irgendwie peinlich.
    »Yao hat behauptet, du seist ans andere Ende der Welt gereist. Nach Amerika«, sagte Ko und betrachtete die Scherben zu seinen Füßen.
    »Für kurze Zeit.«
    »Und warum bist du zurückgekommen?« fragte sein Sohn ungläubig.
    Shan machte noch einen Schritt, so daß er nun auf Armeslänge vor ihm stand.
    »Es hat viel geregnet.« Shan griff in die Tasche und brachte eine Rolle Bonbons und einen Schokoriegel zum Vorschein. Er konnte gar nicht verstehen, wieso er die Worte nur so mühsam über die Lippen bekam. »Das habe ich dir aus den Vereinigten Staaten mitgebracht.«
    Ko betrachtete die Süßigkeiten und wirkte plötzlich gerührt. »Ich dachte schon, die würden mich zurück in die Grube verfrachten. Aber dann kam Yao und hat sie davon abgehalten.« Er nestelte an einer Schwiele auf seiner Handfläche herum. »Einmal, am Nationalfeiertag, da waren in unserem Lager Familienbesuche erlaubt«, sagte er stockend. »Manche Leute haben ihren Ehemännern, Söhnen oder Vätern Süßigkeiten mitgebracht.« Er blickte auf und nahm Shan langsam die Bonbons und den Riegel aus der Hand. »Süßigkeiten sind ein gutes Geschenk für einen Häftling.« Er zuckte die Achseln und strich sich das lange Haar aus dem Gesicht.
    Sie starrten auf die Scherben zu Kos Füßen. Shan rang verzweifelt nach Worten. Er führte tatsächlich ein Gespräch mit seinem Sohn. »Geht es dir gut, Xiao Ko?« fragte er unbeholfen und ärgerte sich sofort, daß er diese vertrauliche Form der Anrede gewählt hatte, die sein Sohn doch so haßte.
    Er trat ein kleines Stück vor, und etwas unter seinem Fuß knirschte. Er hatte den Kopf eines kleinen tönernen Buddhas abgebrochen.
    »Einer der Tibeter hat zu mir gesagt, sobald man die Gebete herausgenommen habe, würden aus diesen Figuren wieder ganz gewöhnliche Gegenstände, und es sei egal, was mit ihnen passiert«, sagte sein Sohn. Shan sah ihn überrascht an, und Ko verzog das Gesicht, als bereue er seine Worte.
    Shan bückte sich, befestigte den Kopf notdürftig auf den Schultern der kleinen Figur und lehnte sie an den Sockel der Mauer. Sein Sohn holte unterdessen wieder mit dem Hammer aus. »Es sind bloß jede Menge Tonscherben«, sagte Ko. »Schmutzige alte Tonscherben. Wenn ich fertig bin, soll ich die Bruchstücke auf dem Parkplatz abladen und unter den Kies harken.«
    »Wir gehen wieder in die Berge, Ko«, sagte Shan. »Ich möchte, daß du uns begleitest.«
    Sein Sohn sah ihn verunsichert an. »Aber nicht noch einmal in diese Gewölbe, oder?« fragte er besorgt.
    »Doch, vermutlich«, räumte Shan ein. »Du mußt mir versprechen, keinen Fluchtversuch zu unternehmen. Es werden nur Yao, Corbett und ich dabei sein, keine Soldaten.«
    Ko umfaßte mit beiden Händen den Stiel des Hammers und spielte unschlüssig daran herum. »Erinnerst du dich an ihr Gesicht, als Khan sie auf die Arme hob? Sie hat uns wie ein Kind angesehen, sich nicht gewehrt und gar nicht begriffen, daß sie in diesem Moment ermordet wurde. Das war nicht mehr sie, sondern nur noch ihre frühere Hülle. Immer wenn ich schlafen will, sehe ich dieses Gesicht vor mir, am Leben und doch tot. Wird er auch dort sein? Der Mongole?«
    Als Shan nickte, biß Ko die Zähne zusammen und nickte ebenfalls. Er schaute zur Mauer, ließ den Hammer fallen, nahm ein flaches Stück Stein und lehnte es vor dem zerbrochenen kleinen Buddha an die Wand. Er schützte die Figur. »Ich bin ein Gefangener«, sagte er und blickte auf seine Hände, als könne er nicht verstehen, was sie soeben getan hatten. »Warum sollte ich versprechen, nicht zu fliehen?«
    »Ein Gefangener zu sein ist etwas, das andere Leute dir antun«, sagte Shan. »Ein Dieb oder Lügner zu sein oder ein Flüchtling zu werden ist etwas, das du dir selbst antust.«
    Ko richtete sich langsam auf, schien im Gesicht des Vaters nach etwas zu suchen und wandte den

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