Der verlorene Sohn von Tibet
irgendeines exotischen Baumes stahlen.
Als sie in die Bibliothek zurückkehrten, lag das thangka unverändert da. Das Dienstmädchen reinigte den Teppich, weil sie vor Schreck etwas Kaffee verschüttet hatte. An einer Tür im hinteren Teil des Raums stand ein bärtiger Mann mit blauem Sportsakko und nickte Dolan zu.
»Hundert Dollar«, sagte Dolan. »Wie gesagt, ich könnte Ihnen hundert Dollar für Ihre Umstände geben und dieses Fragment an einen Wissenschaftler weiterleiten.«
Shan rollte das Gemälde wieder ein. »Ich kenne Gelehrte in Tibet.«
Dolans Augen loderten abermals auf. Er packte Shan am Arm. »Die Mönche können mich nicht davon abhalten. Ich dachte, das wäre inzwischen klar«, zischte er.
»Wovon abhalten?« fragte Shan.
»Die richtigen Knöpfe zu drücken«, erwiderte Dolan, drehte sich um und ging hinaus.
»Der Schuß war eindeutig ein Ablenkungsmanöver«, sagte Corbett, als sie in den Wagen stiegen. »Aber zu welchem Zweck? Er hat das thangka nicht an sich genommen.«
Shan betrachtete weiterhin das Haus. Seine Haut kribbelte. Er fühlte sich irgendwie unrein. »Dolan hat es fotografieren lassen«, sagte er. »Deshalb wollte er es auf den Tisch unter diese helle Lampe legen. Vermutlich war es der Mann mit der blauen Jacke.«
Sie parkten in der Nähe des Tors am Straßenrand undmußten eine Dreiviertelstunde warten, bis ein Fahrzeug das Grundstück verließ. Am Steuer saß der Mann mit der blauen Jacke. Corbett sprang aus dem Wagen, zeigte seinen Dienstausweis vor, sprach kurz mit dem Mann und stieg wieder zu Shan ein. »Ein Stück die Straße hinunter ist ein Café. Wir treffen uns dort mit ihm.«
Das kleine Lokal war früher eine Tankstelle gewesen. Die alten Zapfsäulen standen noch immer an ihrem ursprünglichen Platz, waren aber von Kletterpflanzen überwuchert. Der Fremde blickte nervös auf, als Shan und Corbett sich an seinen Tisch setzten.
»Ich muß wissen, was Sie für Dolan in der Bibliothek gemacht haben«, kam Corbett sofort zur Sache.
Aber der Mann bestritt, überhaupt einen Fuß ins Zimmer gesetzt zu haben. »Ich wollte mit Dolan über unser Projekt sprechen.« Er musterte Corbett und schaute zum Fenster hinaus. Dann zuckte er die Achseln. »Als ich auf dem Weg zur Bibliothek war, ist mir im Korridor jemand entgegengekommen. Ein junger Mann in einem weißen Overall, einer von den Typen, die als Restauratoren für Dolan arbeiten. Was er gemacht hat, habe ich nicht gesehen.«
Corbett ließ ihn nicht aus den Augen. »Hatte er eine Kamera dabei?«
Der Mann nickte und zog eine Visitenkarte aus der Tasche. Corbett warf einen kurzen Blick darauf und reichte sie an Shan weiter. Sie hatten den Leiter eines Ingenieurbüros vor sich. »Wir führen für Mr. Dolan Umbauarbeiten durch.«
»Was im einzelnen?« fragte Shan.
Der Mann runzelte die Stirn. »Er legt sehr großen Wert auf Geheimhaltung. Es gibt in jedem seiner Verträge entsprechende Klauseln.«
Corbett zog das kleine Lederetui mit dem Dienstausweis aus der Tasche und warf es auf den Tisch. »Ich lege auch großen Wert auf so manches. Was für Umbauarbeiten?«
Der Mann sah sich hektisch um. »Hören Sie, er verändert dauernd etwas. Ein ganzer Gebäudeflügel dient als sein persönliches Museum. Wir waren damals beim Bau dabei. Jetzt nimmter Veränderungen vor, das ist alles. Bessere Sicherheitsmaßnahmen und so. Alle wissen von dem großen Diebstahl.«
Corbett seufzte und steckte den Ausweis wieder ein. »Ich will die Namen dieser Restauratoren.«
»Die kenne ich nicht.«
Corbett schien aufstehen zu wollen.
»Beschreiben Sie die Veränderungen«, forderte Shan.
»In der Mitte ein Eßzimmer, umgeben von einer dicken Sicherheitswand. Außerhalb eine kleine Küche mit Speisenaufzug ins Untergeschoß. Ein Ankleidezimmer, wo die Kellnerinnen chinesische Gewänder anlegen können. Ein klimatisierter Schrank zur Aufbewahrung dieser Kleidung. Ein Schlafzimmer, ausgestattet mit chinesischen Antiquitäten. Er nimmt gern Freunde ins Museum mit und lebt möglichst nah bei seiner Kunstsammlung, aber mittlerweile macht er sich große Sorgen wegen der Sicherheit. Wer könnte es ihm verdenken?«
»Was für ein Eßzimmer?« fragte Shan.
Der Mann sah ihn an. »Ihren Ausweis kenne ich noch nicht. Warum will das FBI etwas über Dolans Eßzimmer wissen?«
»Was für ein Eßzimmer?« fragte nun Corbett.
Der Mann runzelte die Stirn. Dann zog er eine Serviette aus dem Spender und zeichnete ein großes Rechteck darauf. »Die
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