Der verlorene Sohn von Tibet
zum nächsten Telefon gerannt, um sich Anweisungen aus Peking zu holen.«
»Wer sind Sie?« fragte Shan und zog unterdessen den Gürtel aus den Schlaufen seiner Hose. Er konnte nicht einfach in das Becken steigen. Falls er ausrutschte, würde er entweder direkt in die Tiefe oder gegen den Westler geschleudert. Spätestens dann mußten auch die letzten beiden Eisenstäbe brechen.
»Verflucht, wollen Sie mir helfen oder meinen Nachruf schreiben?« rief der Mann wütend. Seine Finger hinterließen bereits Blutspuren an der Wand.
Aber Shan wiederholte die Frage und suchte weiter nach einer Möglichkeit, den Mann aus seiner mißlichen Lage zu befreien.
»Corbett«, rief der Fremde. »FBI.«
»Werfen Sie mir Ihre Kamera zu«, sagte Shan.
»Den Teufel werde ich tun.«
»Ich habe weder eine Stange noch ein Seil, also werde ich den Riemen der Kamera an meinem Knöchel befestigen und mit meinem Gürtel verlängern. Hier drüben ist eine Felssäule. Ich binde mich mit meinem Hemd daran fest und strecke mich im Wasser aus. Sie müssen das Gürtelende packen, damit ich Sie herausziehen kann.«
Der Amerikaner wandte mit grimmiger und zugleich verängstigter Miene den Kopf. Dann nahm er mit der blutigen Hand den Fotoapparat, holte Schwung und warf ihn. Die Kamera prallte hinter Shan an die Wand, und das Objektiv brach ab. Shan löste den robusten Riemen, zog ihn durch die Schnalle seines Gürtels und knotete ihn sich um den Knöchel. Gleich darauf stieg er in das Becken und hielt sich dabei an einem Ärmel seines Hemds fest. Den anderen hatte er zuvor an der Säule befestigt.
»Wonach hat man den alten Mönch befragt?« rief er.
Der Amerikaner fluchte. »Keine Ahnung, verdammt. Die wollten, daß er ein Bild des Todes zeichnet.«
Shan machte sich bereit. »Wenn ich Ihnen das Signal gebe, müssen Sie mit Ihrer linken Hand nach dem Gürtel greifen«, rief er.
Der Fremde hob behutsam die Hand vom Boden, wodurch sein Körpergewicht nun gänzlich auf den Beinen lastete. Die Eisenstange unter seinem rechten Fuß brach weg.
Shan streckte das Bein aus und bemühte sich, das Gürtelende neben die Hand des Mannes zu befördern. »Auf mein Zeichen müssen Sie sich umdrehen und die Leine packen«, rief er.
»Falls ich sie verfehle, bin ich geliefert.« Der Mann stöhnte.
»Ich weiß nicht, was länger hält«, sagte Shan, »mein Hemd oder diese letzte Stange.« Er schob sein Bein so weit wie möglich vor, hob es, drehte es und beobachtete, wie das Wasser den Gürtel immer dichter an den Mann herantrug. »Jetzt!«
Als Corbett sich herumwarf und den Gürtel packte, geschahen zwei Dinge gleichzeitig: Die letzte Eisenstange brach, und Shans Hemd riß ein. Der Amerikaner rutschte nach unten, sodaß seine Beine schon über dem Abgrund baumelten, und weil er schwerer als Shan war, zog er ihn mit sich. Da legte sich plötzlich eine Hand auf Shans Arm und zerrte ihn zurück. Es war Yao, der einen Arm um die Säule geschlungen hatte und mit dem anderen an Shan zog, bis dieser selbst den Pfeiler zu fassen bekam und sich auf den Rand des Beckens hievte. Gemeinsam mit Yao holte er den Riemen ein, der an seinem Knöchel hing.
Schließlich gelang es ihnen, Corbett zu packen und aus dem Wasser zu wuchten. Shan brach neben ihm zusammen. Auch Yao sank keuchend zu Boden. Zuvor jedoch hatte er mit einem schnellen Tritt, der dem Amerikaner verborgen blieb, die Kamera ins Becken gestoßen, wo sie von der starken Strömung sogleich in die Tiefe gerissen wurde.
»Wo, zum Teufel, sind Sie gewesen?« herrschte Corbett den Inspektor an.
»Ich will keine Beschwerden hören«, sagte Yao und rang nach Luft. »Immerhin haben Sie durch mich hundert Dollar gespart.«
Shan schaute von einem zum anderen. Alle lagen erschöpft auf dem Boden des Tunnels, Yao starrte verärgert Corbett an, und der Amerikaner lachte leise. Mit großer Mühe kämpfte Shan sich auf die Beine, nahm sein Hemd, zog die kleine Lampe aus der Tasche und eilte zurück den Schacht hinauf.
Kapitel Fünf
Als Shan die Oberfläche erreichte, blieb er nicht stehen, sondern verbarg sich sofort im Schatten einer der langen Gassen des Ruinenfelds, die zum Hang führten. Dann erst lauschte er auf etwaige Verfolger und hielt nach den vermuteten Soldaten Ausschau. Nichts. Er orientierte sich anhand des gedachten Lageplans, den er von dem Gelände angelegt hatte, und lief weiter bis zum östlichen Rand, der Seite, die gegenüber dem Steinturm lag. Während er wieder zu Atem kam, schaute er auf seine
Weitere Kostenlose Bücher