Der verlorene Sohn von Tibet
Gedanken zu bringen, denn er verstummte. Dann ließ er sich die Lampe zurückgeben und untersuchte die Spuren, auf die Shan ihn hingewiesen hatte. Er nahm die Wand aus nächster Nähe in Augenschein, steckte seine Finger ebenfalls in den Spalt, genau wie zuvor Shan, und zog aus den Resten des Verputzes ein braunes, fünfzehn Zentimeter langes Haar hervor.
»Von einem Pferd«, sagte Shan. »Es war üblich, Pferdehaare in den Putz zu mischen, damit er besser hält. Viele Tibeter machen es noch heute so in ihren Häusern.« Er schaute sich das Haar an. »Dieses spezielle Pferd hat wahrscheinlich vor vielen hundert Jahren gelebt. Es war braun, und das Haar wurde von seiner Mähne abgeschnitten. Bestimmt haben die Mönche Gebete an seine Seele gerichtet und ihm gedankt, daß es bei der Errichtung des Tempels half.«
Der Fremde neigte den Kopf und betrachtete das Fundstück mit einer seltsamen Mischung aus Faszination und Verdruß. Dann zog er eine kleine Tüte aus der Tasche und ließ das Haar hineinfallen.
Shan war zunehmend beunruhigt und rückte näher an den Ausgang heran. Falls er den Mann umstieß, würde er es vielleicht bis nach oben schaffen. Dann mußte er nur noch den Soldaten entwischen.
Der Fremde musterte ihn erneut und leuchtete ihm abermals ins Gesicht. »Tan, dieser alte Halunke«, murmelte er. »Hat er wirklich geglaubt, Sie so einfach verstecken zu können? Sie sind es. Der Häftling namens Shan.«
Shan befiel ein eisiges Frösteln. Der Fremde wußte, wer er war. Falls er nun wegrannte, würden nur noch mehr Soldaten kommen, die Berge absuchen und am Ende Lokesh und Gendun oder gar die kleine Dawa aufspüren und verhaften.
»Der verwilderte Chinese, der weiß, wie man mit den Tibetern in den Bergen spricht«, fuhr der Mann fort, als wolle er Shan provozieren.
»Ja, ich bin Shan«, gestand er flüsternd ein. »Die tibetische Sprache allein hat wenig zu bedeuten«, fügte er hinzu. »Gegenüber der Regierung werden die Menschen sich niemals freimütig äußern.«
»Warum?«
Shan biß die Zähne zusammen. »Sie müssen neu in Tibet sein«, stellte er nach kurzem Schweigen fest.
Der Fremde sah ihn neugierig an, so wie zuvor das alte Pferdehaar. »Ich reise bald wieder ab. Bis dahin möchten wir Sie für ein paar Tage engagieren, um uns bei der Befragung einiger Tibeter zu helfen. Mein Kollege wird Sie gut bezahlen. Sie haben kein regelmäßiges Einkommen, immerhin sind Sie ein ehemaliger Sträfling.«
»Wohin werden Sie reisen?«
»Ich bin Inspektor Yao Ling und arbeite für den Pekinger Ministerrat.«
Die Stille im Raum glich einer aufsteigenden Staubwolke, die Shan den Atem abschnürte. Yao kam nicht nur aus Peking, sondern verkehrte zudem in dem kleinen elitären Kreis, der die heiklen und geheimen Interessen der höchsten Staatsfunktionäre wahrte. »Ich wußte gar nicht, daß der Rat über eine Ermittlungsabteilung verfügt«, krächzte Shan.
»Keine Abteilung. Ein einziger Ermittler. Meine Arbeit ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt«, sagte Yao und richtete die Lampe auf Shans Kopf. »Wie kommt es, daß Sie den Ministerrat kennen?«
»Sind Sie wegen des Mordes hier?« fragte Shan.
»Was für ein Mord?« erwiderte Yao und kam näher.
»Hier in diesem Raum wurde gestern jemand getötet. Später hat man dann den alten Mönch festgenommen und verhört.«
Yao runzelte die Stirn, ging ein paar Schritte auf und ab und starrte auf die Wand, von der man kürzlich das Fresko entfernt hatte. »Er wurde nicht festgenommen. Wir hatten etwas mit ihm zu besprechen.«
»Sie und Direktor Ming?« Shan machte einen Schritt in Richtung der Treppe. »Warum interessiert der Ministerrat sich für einen alten Mönch?«
Yao runzelte schon wieder die Stirn. »Haben Sie hier eine Leiche gesehen?«
Shan deutete auf die Flecke am Boden. »Nein, aber das frische Blut. Surya …« Er zögerte, denn er konnte die Rolle des alten Mönchs noch immer nicht einschätzen. »Surya hat die Leiche gesehen.«
Der Inspektor seufzte. »Ming hat gesagt, der alte Mann kenne sich mit der traditionellen Kunst und ihren Symbolen aus und wisse vielleicht, wo man am besten danach suchen sollte. Aber dann hat dieser Surya irgendeinen Zusammenbruch erlitten, und jetzt faselt er wie ein Irrer. Keine von seinen Äußerungen hat auch nur den geringsten Sinn ergeben, er war vollkommen nutzlos für uns. Als nächstes wird er noch behaupten, er habe überall Tote vergraben.«
»Er war nutzlos für Sie«, wiederholte Shan.
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