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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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schließen. Das war alles. Ich dachte, er meinte die Hügelleute.«
    »Er sagte, er habe einen mächtigen Abt getroffen.«
    Der Lama dachte lange über Shans Worte nach. »Es gibt hier in den Bergen schon seit Jahrzehnten keine mächtigen Äbte mehr«, entgegnete er schließlich und sah Shan fragend ins Gesicht. Doch Shan konnte ihm keine Erklärung anbieten. Er wußte, wie schwer dem Lama dieses Gespräch fiel. Gendun hatte sich noch nie so ausführlich zu einem weltlichen Dilemma geäußert, zu einem der Rätsel, die Shan zu lösen versuchte. Der Grund dafür war Shan bewußt: Weder Gendun noch er vermochte zu erkennen, ob Suryas Geheimnis weltlicher oder spiritueller Natur war.
    »Ich habe dort unten Polizisten angetroffen«, sagte Shan mit Blick auf die Stufen, die in die Gewölbe führten.
    Gendun schaute den Weihrauchschwaden hinterher. »Falls sie nach Beweisen gegen Surya suchen, solltest du ihnen behilflich sein«, sagte er leise.
    Shan starrte ihn völlig verblüfft an.
    »Surya hätte es so gewollt.«
    »Das kann ich nicht tun, Rinpoche«, sagte Shan. Es bereitete ihm beinahe körperliche Schmerzen, dem Lama zu widersprechen. »Ich werde Surya vor sich selbst retten.« Er hob den Kopf und sah Gendun in die Augen. Was gesagt war, konnte nicht zurückgenommen werden. Er würde die Mönche beschützen, auch wenn das bedeutete, nie mehr bei ihnen leben zu können.
    »Surya retten, die Menschen vor den Gottestötern retten, das kleine Mädchen retten, das weggelaufen ist, Yerpa und seine Mönche retten«, zählte Gendun ruhig auf. »Nicht einmal du kannst all dies bewirken.«
    »Nein«, räumte Shan ein. »Doch was soll ich deiner Meinung nach tun?«
    »Das einzig Wichtige. Rette Zhoka.«
    Sie verharrten schweigend, und Shan dachte nach. »Dieses Buch über Zhoka«, sagte er dann. »Wo ist es?«
    »Es war zu riskant, es zu behalten. Surya hat es zurück an die Fundstelle gebracht. Nur er weiß, wo die Höhle liegt.«
    Als Shan ein weiteres Mal das Gelände betrachtete, sah er zwei Gestalten den Hang erklimmen. Yao und der Amerikaner brachen auf und steuerten den Steinturm an.
    Shan lag ein Dutzend neuer Fragen auf der Zunge, aber als er den Kopf wandte, waren Genduns Augen geschlossen. Der Lama hatte sich in eine Meditation vertieft. »Lha gyal lo«, sagte Shan leise und stand auf. Vielleicht waren nicht alle seine Vorhaben unausführbar. Er wußte nicht genau, wo er nach Dämonen und heiligen Büchern suchen sollte, aber Lokesh und Dawa würde er im Süden finden.
    Eine Viertelstunde später eilte Shan auf dem Kamm oberhalb des Klosters im Laufschritt den südlichen Pfad entlang. Plötzlich stolperte er, prallte schmerzhaft gegen einen Felsen und fiel der Länge nach hin. Als er sich den Staub aus dem Gesichtwischte, bemerkte er ein Seil aus Yakhaar, das quer über den Weg gespannt war, und daneben ein altes Paar Stiefel. Er stemmte sich vom Boden hoch, blickte auf und sah genau in die Augen des stiernackigen Hirten, der am Vortag versucht hatte, ihn gefangenzunehmen. Als der Mann nach ihm trat, konnte Shan mühelos ausweichen. Dann stand er langsam auf und setzte sich auf den Felsen. Er wollte keine weitere Gewaltanwendung provozieren.
    »Ich hab mal einen Wolf getötet und dafür eine Prämie bekommen«, knurrte der kräftige Mann. »Der Preis, den man im Tal auf dich ausgesetzt hat, ist fünfzigmal so hoch.«
    »Es tut mir leid, daß eure Gebete gestern so schroff unterbrochen wurden«, sagte Shan ungerührt. »Ich wollte dich noch nach den Gottestötern fragen.«
    »Hörst du schlecht? Ich liefere dich jetzt aus.« Der Mann kam mit erhobener Faust näher. Bei dieser Gelegenheit entdeckte Shan ein Stück Schnur an einem seiner Knöpfe und ein zusammengerolltes Papier, das er an einer Kordel um den Hals trug. Der Mann war mit Schutzzaubern ausgestattet.
    Shan streckte den Arm aus und nahm eine Handvoll Erde auf. Der Mann hatte vorher dort gestanden. Es war sein Stiefelabdruck. Shan gab etwas Spucke hinzu und rollte die Erde zu einer Kugel. »Hast du diese Gottestöter mit eigenen Augen gesehen?«
    Der Mann schaute verunsichert auf Shans Hände. »Laß das gefälligst«, sagte er und beeilte sich, alle anderen Abdrücke mit der Stiefelspitze zu verwischen.
    »Hast du?« Shan fing an, die feuchte Erde zu einer menschlichen Gestalt zu formen.
    »Ich habe während der letzten beiden Wochen drei- oder viermal Fremde gesehen, aber nur von weitem, ohne sie genauer zu erkennen. Teure Kleidung. Rucksäcke.

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