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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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nassen Beine. Falls am Vortag tatsächlich jemand in dem Freskenraum ermordet worden war, hatte man die Leiche schnell beseitigen können. Der unterirdische Wasserlauf kam wie gerufen. Man warf den Toten einfach hinein, und er wurde ganz von selbst in die Schlucht gespült, so wie beinahe auch der Amerikaner.
    Shan folgte dem gewundenen Pfad auf der Mauer bis zu einer Stelle, von der aus man den Abgrund unterhalb des alten gompa überblicken konnte. Auch der Wasserfall, der mitten aus der Felswand entsprang, war zu sehen. Er stürzte hundertfünfzig Meter in die Tiefe und speiste einen Bach, der nach Nordwesten in Richtung Lhadrung verlief. Shan kniete sich hin und musterte die tückischen, fast senkrechten Wände der Schlucht. Der kleine Teich unter dem Wasserfall war von hier aus nicht zugänglich. Man hätte zum Eingang des Tals mehrere Kilometer nach Osten reisen und dann dort unten die gleiche Strecke in entgegengesetzter Richtung zurücklegen müssen. Eine Leiche konnte Shan nicht ausmachen, aber er wußte weder, wie tief der Teich war, noch, ob die Strömung den Toten vielleicht mitgerissen hatte. Womöglich war das Opfer auch abseits des Beckens in den Schatten gefallen.
    Einige Dinge unten im Tal schienen farblich nicht zu denFelsen zu passen. Shan mußte daran denken, wie Dawa vor lauter Angst all die Sachen in die Tiefe geworfen hatte. Irgendwo da unten lagen Genduns kleine Bronzehand und der Beutel mit Shans alten Schafgarbenstengeln.
    Er ließ den Blick über die Landschaft schweifen und suchte vergeblich nach einem Hinweis auf Lokesh oder Gendun. Wenn er sich gleich auf den Weg machte, würde er fünf Kilometer östlich von hier die Schlucht hinter sich lassen, den nächsten Bergkamm überqueren und den versteckten Zugang nach Yerpa erreichen können, bevor der Mond unterging. Er sah nach Westen. Dort lag das sonderbare, behagliche Haus der Frau namens Fiona. Er konnte die Nacht damit zubringen, ihr aus den englischen Romanen vorzulesen. Dann blickte er gen Süden, zu der zerklüfteten, gefahrvollen Region zwischen Lhadrung und der knapp achtzig Kilometer entfernten indischen Grenze. Lokesh war in diese Richtung aufgebrochen, um das verschreckte Mädchen zu suchen.
    Shan wollte schon aufstehen und sich nach Süden wenden, als ihm ein schwacher Weihrauchduft in die Nase stieg. Fünf Minuten später befand er sich wieder zwischen den Ruinen, und nach weiteren fünf Minuten hatte er die Quelle des Geruchs aufgespürt.
    Der Lama saß vor der höchsten noch stehenden Mauer, der mit dem gezackten Loch in der Mitte. Shan ließ sich neben Gendun nieder und versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. »Hier sind Männer wie diejenigen, die Surya geholt haben«, sagte er, als der Lama ihn mit einem Nicken begrüßte.
    »Ich wollte gerade mit ihnen darüber sprechen, wie wunderschön der Himmel heute ist«, erwiderte Gendun und schien Shans Gedanken aus dessen Blick ablesen zu können. »Ein Tempel dient dazu, Wahrheit zu verbreiten, Shan, und nicht, sie zu verbergen.«
    »Sollten wir die Wahrheit nicht zunächst begreifen?« fragte Shan. »Hast du herausgefunden, was Surya wirklich getan hat und weshalb er wollte, daß du ihn mit diesem Gebet von uns fernhältst?«
    »Es war ein Gebet zur Vertreibung eines Dämons«, berichtigte Gendun ihn.
    Shan schilderte, was er in der Stadt in Erfahrung gebracht hatte. »Was lastet auf seiner Seele, Rinpoche? Waren die Ereignisse im Tunnel nicht etwa der Anfang, sondern das Ende seiner Qual? Du kennst ihn besser als jeder andere.«
    Gendun verschränkte die Hände im Schoß und senkte den Blick. »Ich habe ihn noch nie so glücklich erlebt wie nach dem Fund dieses Buches. Es hatte in dem Versteck zwei Jahrhunderte überdauert und enthielt ganz gewöhnliche Aufzeichnungen, aber wir erfuhren dadurch alles, was wir über Zhoka und dessen Gründer wissen mußten. Surya sagte, sein ganzes Dasein habe der Vorbereitung auf ein Leben an diesem Ort gedient. Er fing an, tagsüber von Yerpa herzukommen, um mehr über das gompa zu lernen. Vor zwei Tagen traf ich ihn dann zitternd in seiner Kammer an. Es war der Abend, nachdem er plötzlich sein Gemälde zerstört hatte. Surya bekam kein einziges Wort über die Lippen. Ich bin die ganze Nacht bei ihm geblieben. Er hat gemeinsam mit mir gebetet, aber ansonsten nichts erzählt.«
    »Wußtest du, daß er sich hier mit Fremden getroffen hat?«
    »Vor ungefähr einer Woche sagte er, Menschen aus aller Welt würden Zhoka in die Arme

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