Der verlorene Sohn von Tibet
Ferngläser. Sie haben ziemlichen Lärm gemacht und viel gelacht. Ihre Zigaretten konnte man aus einer Meile Entfernung riechen.«
Shan arbeitete weiter an der kleinen Figur. Es war ein uralter Aberglaube aus dem präbuddhistischen Tibet. Er fertigte ein Bildnis des Mannes an, mit dessen Hilfe sich Schaden verursachen ließ. Normalerweise benötigte man eine Haarsträhneoder einen Kleidungsfetzen der betreffenden Person, aber die Erde eines Fußabdrucks würde genügen.
»Das kannst du unmöglich wissen …«, sagte der Mann nervös und starrte auf Shans Hände. Er wich einen Schritt zurück. »Verflucht! Hör auf!«
»Wo?« fragte Shan.
»Zuletzt sieben oder acht Kilometer von hier. Näher am Tal. Eine Weide hinter ein paar schmalen Bächen, recht unwirtlich. Nur die Hirten gehen dorthin. Als einer meiner Hunde bellte, nahm ich also an, es sei Jara oder einer der anderen mit seiner Herde. Aber es war eine zehn- oder zwölfköpfige Gruppe, Chinesen und Tibeter, mit bunten Jacken. Sie haben sich wie Touristen aufgeführt. Ich habe meinen Hund zurückgepfiffen und bin auf die Leute zugegangen, weil ich dachte, ich könnte mir vielleicht etwas Geld als Führer verdienen. Ich kam nahe genug, um zu hören, daß sie einander aus einem Pilgerbuch vorgelesen haben. Und ich sah, daß sie bereits einen Führer aus der Stadt hatten, diesen Mistkerl mit der verkrüppelten Hand.«
»Haben sie gebetet?«
»Natürlich nicht.«
»Was sollte dann das Pilgerbuch?«
»Es beschreibt den Weg zu den alten Pilgerstätten und Schreinen«, sagte der Mann. »Diese Leute wollten nicht beten, sondern das genaue Gegenteil.«
»Soll das heißen, sie haben die heiligen Gegenstände zerstört?«
»Sie haben einen flachen Stein hochgehoben, unter dem sich ein kleiner Altar befand. Früher habe ich oft meinen Vater dorthin begleitet, damit er zu der Gottheit beten konnte, einer Kupferstatue von Buddha. Als die Leute wieder gegangen sind, war die Statue zerschmettert, genau wie diese kleine silberne Tara.«
»Wurden noch andere Figuren auf diese Weise beschädigt?«
»Ich habe insgesamt fünf gesehen, alle mit zertrümmertem Kopf und aufgeschnittenem Rücken. Alle leer.«
»Hast du gestern einen der Fremden bemerkt? Oder letzte Nacht?«
»Keine Ahnung. Kann schon sein. Im Dunkeln sind Leute nach Süden gezogen. Sie haben irgendwas geschleppt, Holzklötze oder so. Ich bin nicht näher herangegangen.«
»Warum sollten die Gottestöter nachts unterwegs sein?«
»Weil dann die Mönche herauskommen.« Der Mann deutete auf die kleine Figur. »Glaubst du, du kannst mir mit ein bißchen Erde Angst einjagen? Man muß auch die richtigen Worte aussprechen. Ohne die funktioniert es nicht.«
»Ich hatte gute Lehrer«, sagte Shan, bückte sich und schrieb es mit dem Finger in den Staub. Om ghate jam-mo .
Der Mann wurde sehr still und starrte verzweifelt erst die Worte an, dann Shan. Nach einem Moment wies er auf die Innenseite von Shans Unterarm und die dort eintätowierte Nummer. Dann seufzte er und verwischte die Worte mit der Stiefelspitze. »Wo?« fragte der Hirte.
»Bei der 404ten, unten im Tal.«
Der Mann musterte erneut das kleine Abbild aus Erde. »Ich wußte nicht, daß sie nach einem ehemaligen Häftling suchen.« Er fluchte leise und zog ebenfalls den Ärmel hoch. Auch er war tätowiert. »Acht Jahre in dem großen Gefängnis bei Lhasa. Du kannst gehen.« Er streckte die Hand aus.
Shan wollte ihm die Figur schon geben, hielt dann aber inne. »Wie lautet das Wort, wegen dessen jemand tötet?«
»Du bist verrückt. Hör lieber auf!«
»Dann erzähl mir davon, ohne es direkt zu erwähnen.«
Der Hirte stöhnte leise auf, ließ die Figur aber nicht aus den Augen. »Er war ein Schutzgott von Zhoka, eine besondere Inkarnation des Yama. Es gab bei den Hügelleuten ein Fest zu seinen Ehren, mit Kostümen und Maskentänzern. Bei Einbruch der Dunkelheit kam starker Wind auf, packte das Kostüm der Gottheit und trug es hoch in den Himmel empor, wo es spurlos verschwand. Am nächsten Tag kamen die Flugzeuge.«
Shan ließ die Figur auf die ausgestreckte Hand des Mannes fallen. Der Hirte würde sie nun an einem sicheren Ort verstecken müssen, damit sie keinen Schaden nahm. Er versetzte Shan einen kräftigen Stoß und fluchte, als sei er betrogenworden. »Mach doch, was du willst«, rief er Shan hinterher. »Geh ruhig nach Süden, und du wirst wesentlich Schlimmeres zu befürchten haben als Leute wie mich. Da unten leben nur Fleischzerleger und
Weitere Kostenlose Bücher