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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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»Aber gestern wollten Sie so dringend mit ihm sprechen, daß Ming einen Helikopter geschickt hat?«
    »Geschickt? Er hat selbst im Cockpit gesessen.«
    Demnach hatte Ming den Soldaten über Funk Befehle erteilt, derselbe Ming, der zu wissen schien, wer gestorben war. »Sie sind nicht aus Peking hergekommen, weil gestern ein Mord begangen wurde. Zu dem Zeitpunkt waren Sie bereits hier.«
    »Es hat keinen Mord gegeben.«
    »Ich war oben, bei den Ruinen. Ich habe Suryas Gesicht gesehen, als er zu uns kam. Er war hier unten. Jemand wurde getötet, und aus irgendeinem Grund ist Surya überzeugt, dafür verantwortlich zu sein.«
    Der Inspektor machte keinen Hehl aus seiner Gereiztheit. »Mord ist ein juristischer Begriff. Solange es nicht von offizieller Seite bestätigt wurde, gibt es keinen Mord. Braune Flecke auf dem Boden einer Höhle, ein stammelnder alter Tibeter – das alles ist völlig ohne Belang.«
    »Und doch sind Sie hier.«
    Inspektor Yao hob die Hand und öffnete den Mund, als wolle er widersprechen, aber ein hektischer Ruf schnitt ihm das Wort ab.
    »Yao! Verdammt! Sie müssen …« Der Sprecher stöhnte keuchend auf. Dann schien er sich schnell von ihnen zu entfernen.
    Shan zögerte zunächst, als Inspektor Yao in die Richtung verschwand, aus der er gekommen war, denn nun bot sich ihm eine Gelegenheit zur Flucht. Dann hörte er wieder diesen Schrei, diesmal gedämpft und panisch, und folgte Yao mit hastigen Schritten in die Dunkelheit. Erst als er zu dem Lichtstrahl der Taschenlampe aufschloß, begriff er, daß die Stimme englisch gesprochen hatte.
    Als Shan den Inspektor erreichte, stand dieser am Ende des Korridors und starrte zur Felsdecke, wo von oben ein knapp zwei Meter breiter Sturzbach hinabfiel und ein Becken füllte, das irgendwo links im Dunkeln wieder abfloß.
    Mitten im Wasser lag eine kurze schwarze Taschenlampe aus Metall und leuchtete noch immer.
    Yao schaute sich suchend um. Shan griff in das eiskalte Wasser und barg die Lampe. Sie schien alles unbeschadet überstanden zu haben.
    »Da!« rief er und zeigte auf ein Sims am Rand des Bassins. Darauf standen zwei teure lederne Wanderstiefel, in denen dicke Wollsocken steckten. »Es ist hier sehr glatt und rutschig«, stellte Shan fest.
    Aber Yao achtete nicht auf ihn, sondern musterte etwas an der Wand jenseits des kleinen Beckens, eine verblaßte Aufschrift auf dem schwarzen Gestein.
    Shan wagte sich in die Finsternis vor, erst langsam, dann im Laufschritt. Er folgte dem Wasser über eine Reihe breiter abschüssiger Stufen, die man links neben der ausgewaschenen Rinne in den Fels gehauen hatte. Falls jemand oben am Becken ausglitt, würde er wie in einer steilen Rutsche nach unten stürzen, ohne sich irgendwo festhalten zu können. Shan kam an mehreren kleinen Kammern und einem halb zerfallenen Wandgemälde vorbei. Nach einer Minute sah er Licht vor sich und schaltete die kleine Lampe aus. Der Schacht verlief nun weniger steil und schließlich fast waagerecht. Shan kam um eine Biegung und fand sich im Sonnenschein wieder. Der Pfad endete an einer Felssäule am Rand eines Beckens, auf dessen andererSeite eine rechteckige Öffnung von etwa anderthalb mal zweieinhalb Metern gähnte, durch die der Bach in die tiefe Schlucht stürzte. Ursprünglich hatten Eisenstäbe im Abstand von ungefähr dreißig Zentimetern den Durchlaß gesichert, aber die meisten waren im Laufe der Zeit verrostet, so daß nur noch ein paar schartige Überbleibsel aus dem Stein ragten. Am anderen Ende der Öffnung hatten zwei der Stäbe überdauert, wenngleich auch sie sichtlich korrodiert waren. Ein großer, breitschultriger Mann, ein Westler, lag dort auf dem Rücken im flachen, schnell strömenden Wasser, hatte beide Füße gegen die Stäbe gestemmt und sich mit der linken Hand vom Boden abgestützt. Seine Rechte bemühte sich vergeblich, irgendwo am Fels Halt zu finden.
    »Alles in Ordnung?« fragte Shan auf englisch.
    »Scheiße, was glauben Sie wohl, Yao? So wie ich das sehe, werde ich sterben. Diese Stäbe dürften nicht ewig halten.« Der Fremde war älter als Shan und hatte graue Strähnen im lockigen braunen Haar. Er trug eine Weste mit vielen Taschen, und um seinen Hals hing ein teurer Fotoapparat.
    »Ich bin nicht Yao«, sagte Shan und hielt nach irgend etwas Ausschau, das er dem Mann entgegenstrecken konnte.
    Der Westler warf einen kurzen Blick zur Seite. »Gut!« rief er. »Yao ist sowieso viel zu schwach, um die Initiative zu ergreifen. Vermutlich wäre er

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