Der verlorene Sohn von Tibet
Surya und Gendun hatten sich verhalten, als seien die Ruinen völlig unwichtig und das Kloster in Wahrheit nie zerstört worden. Lagen die bedeutenden TeileZhokas etwa alle unter der Oberfläche? Falls es sich hierbei tatsächlich um einen Tempel der Erdbändigung handelte, hatten seine einstigen Erbauer womöglich auch unter der Erde mit der Arbeit begonnen.
Plötzlich hallten Schritte aus dem Tunnel hinter dem Raum. Shan blies die Lampe aus. Die Schritte wurden langsamer, er hörte leise Stimmen, und dann zuckte zweimal das Blitzlicht eines Fotoapparats auf. Der weiße Strahl einer Taschenlampe durchschnitt die Finsternis und richtete sich auf den Eingang, neben dem Shan stand. Er lief in die nächstbeste Ecke und duckte sich. Dort wartete er ungefähr eine Minute lang ab. Gerade als er wieder aufstand, betrat eine Gestalt die Kammer und leuchtete ihn an.
»Sie?« rief jemand überrascht.
Shan hob die Hand, um seine Augen abzuschirmen, und schob sich an der Wand entlang auf den Ausgang zu.
Der Neuankömmling kam vorsichtig näher und ließ den Lichtstrahl auf Shans Kopf gerichtet. »Was machen Sie hier? Wie haben Sie diesen Ort gefunden?« Der Mann versperrte ihm den Weg zur Treppe.
Als er die Taschenlampe sinken ließ, erkannte Shan sein Gesicht. Es war der gedrungene Han-Chinese vom Verwaltungsgebäude, der nach wie vor bekleidet mit weißem Hemd und brauner Weste war.
»Haben Sie sich verlaufen?« fragte Shan langsam und suchte fieberhaft nach einem Ausweg. »Es ist hier ziemlich gefährlich.«
»Ist Ihnen eigentlich klar, welche Strafen auf Plünderung stehen?« herrschte der Mann ihn an.
»Plünderung? Ich dachte, hier sei alles zerstört.« Der Mann mußte mit einem Hubschrauber hergeflogen sein, denn es war unwahrscheinlich, daß ein so hoher Beamter ohne bewaffnete Eskorte reiste. Vermutlich warteten draußen mehrere Soldaten und hielten sich eventuell versteckt. Shan sah zum Ausgang.
Der Mann hob die Lampe, als wolle er damit zuschlagen. »Was machen Sie hier?« wiederholte er nachdrücklich und mit befehlsgewohnter Stimme. »Für wen arbeiten Sie? Wer hat Siehergebracht?« Der Mann mochte ungepflegt wirken, doch sein wacher Blick ließ auf eine hohe Intelligenz schließen.
»Ich wohne hier in den Bergen.« Shan sah den Schreibblock, auf dem der Mann sich Notizen gemacht hatte, und begriff, daß auch der Fremde nach etwas suchte. Aber wonach? »Es ist eine riskante Gegend für Touristen.«
Der Mann wurde ungeduldig. Seine Miene verhärtete sich. »Keiner von uns beiden ist ein Tourist, Genosse. Was haben Sie in diesen Ruinen verloren? Warum sind Sie in diesem Raum?«
»Hier ist etwas geschehen.«
»Was soll das heißen?« Der Fremde leuchtete die Wände ab.
»Zunächst mal hat jemand etwas von hier entwendet.«
Der Mann erstarrte kurz und wandte sich dann wieder Shan zu. »Wie kommen Sie denn darauf?« fragte er mit plötzlichem Interesse.
»Die Wände hier waren alle verputzt und drei zusätzlich mit Fresken versehen. Eines der Bilder gibt es noch«, erklärte Shan und wies auf das verblaßte Gemälde. »Eines ist im Laufe der Jahre abgebröckelt«, sagte er und deutete auf die links angrenzende Wand. »Da unten liegen die Reste«, fügte er hinzu. »Aber das dritte Bild befand sich in tadellosem Zustand.«
Er streckte die Hand nach der Taschenlampe aus. Der Mann gab sie ihm. Shan ging zur rechten Ecke der leeren Wand und beleuchtete einen winzigen verkrusteten Grat, der parallel zum Rand verlief. Dann leuchtete er den verborgenen Spalt an der Oberkante der Wand aus, den er zuvor mit den Fingern ertastet hatte. »Wer auch immer dies getan hat, wollte sorgfältig alle Spuren des alten Verputzes beseitigen. Doch es ist ihm nicht ganz gelungen. Man hat alles abgeklebt und mit einer Stoff- oder Papierschicht gesichert, dann einen Schnitt angebracht und den gesamten Putz in einem Stück abgelöst, hier oben an der Ritze.« Im Licht war ein schmaler Rest des Verputzes zu sehen, der in dem Spalt steckte. »Und hier«, sagte Shan und wies auf ein kurzes Stück Draht, das in einem Riß steckte. »Das stammt von der Drahtbürste, mit der man die Wand danach gesäubert hat. Die Spuren des Diebstahls sollten beseitigt werden.«
»Haben Sie eine Vorstellung, wie ungeheuer schwierig es ist,ein Fresko auf diese Weise von der Wand zu lösen?« fragte der Fremde skeptisch. »Es dürfte auf der ganzen Welt allenfalls ein paar Dutzend Leute geben, die diese Technik beherrschen.« Das schien ihn auf einen
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