Der verlorene Sohn von Tibet
Rowdytums«, berichtete er und benutzte dabei eine von Pekings bevorzugten Umschreibungen für gesellschaftsfeindliches Verhalten. »In Anbetracht der Weigerung, sich strikter Disziplin und den Direktiven des Sozialismus zu unterwerfen, überrascht das Ergebnis nicht«, las er. »Am Ende stand der tätliche Angriff auf einen Offizier der Öffentlichen Sicherheit. Fünfzehn Jahre lao gai .« Das hieß Zwangsarbeit. Yao ließ die Seite sinken. »In einer der Kohlengruben«, fügte er hinzu. In den gewaltigen Tagebauminen schaufelten die unterernährten Häftlinge sich buchstäblich ein eigenes Grab, indem sie mit einfachsten Werkzeugen Kohle abbauen mußten – sieben Tage pro Woche, Jahr für Jahr. Mehr als die Hälfte der Gefangenen starb vor Ablauf ihrer Strafe.
Yao blätterte in den Papieren und hielt bei einer der hinteren Seiten inne. »Angefangen hat es auf einer dieser Eliteschulen für die Kinder von Parteimitgliedern. Wenn ein Schüler Probleme bereitet, erhält er zusätzlichen Unterricht über die Helden des Volkes. Er hat seine Klassenkameraden bestohlen und wurde erwischt. Man rief einen Arzt. Er hat den Jungen befragt und dann der stellvertretenden Bürgermeisterin Bericht erstattet.«
Ein eisiger Schauder durchfuhr Shan.
»Der Arzt meldete, der Junge sei unheilbar gesellschaftsfeindlich. Ständig prahlte er mit seinem Vater, der angeblich einberüchtigter Verbrecher und Kopf einer Bande sei, die in ganz China Überfälle und Morde begehe, so daß sogar der Vorsitzende ihn fürchte.«
Shan spürte, wie er erbleichte. Nach ihrer Heirat war seine Frau in eine Gemeinde versetzt worden, die fast anderthalbtausend Kilometer von Peking entfernt lag. Dort hatte sie den gemeinsamen Sohn aufgezogen und Shan nur anläßlich einiger weniger Feiertage in der Hauptstadt besucht. Nach Shans Verurteilung hatte seine Frau, die stellvertretende Bürgermeisterin, die Ehe annulliert.
»Eines Nachts ertappte man ihn dabei, wie er parteifeindliche Parolen an eine Wand schmierte. Zur Strafe wurde er der Schule verwiesen. Eine Woche später stürzten nachts die ersten Telefonmasten um. Es dauerte eine weitere Woche, bis man ihn auf frischer Tat ergreifen konnte. Er hatte mit einer Axt insgesamt achtzig Masten gefällt. Seine Mutter wurde zur Disziplinierung in eine Sondereinrichtung der Partei geschickt und er zum Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft verurteilt. Von dort ist er nach einem Monat geflohen und kam als Mitglied einer Bande zum Vorschein, die vor den Toren großer Fabriken Heroin verkauft hat. Zu dem Zeitpunkt benutzte er einen neuen Namen. Tiger Ko. Als man ihn verhaftete, griff er einen Beamten an und schlug ihn krankenhausreif. Seine Mutter wurde unehrenhaft aus dem Staatsdienst entlassen.«
Yao redete weiter, aber die Worte ergaben für Shan keinen Sinn mehr. Eine Art Schleier schien sich über ihn gelegt zu haben. Er hatte das Gefühl, in einen Abgrund zu stürzen, und mußte sich am Tisch festklammern.
»Bringen Sie ihm einen Tee«, hörte er den Amerikaner auf chinesisch sagen.
Als er wieder zur Besinnung kam, stand eine Tasse mit dampfendem grünem Tee neben seiner Hand. »Er ist noch nicht mal zwanzig Jahre alt«, sagte Shan schließlich mit heiserer Stimme, nahm die Tasse und trank das kochendheiße Gebräu.
»Er hätte die lenkende Hand eines Vaters gebraucht«, stellte Direktor Ming mit vor Sarkasmus triefender Stimme fest. »Seine Mutter hat ihn im Stich gelassen. Die zweite Ehe, derUmzug an die Ostküste, der neue Name. Sie hat seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm.«
Shan bewegte die Beine und hörte das Rasseln der Kette. »Und jetzt werden Sie auch mich in diese Kohlengrube schicken«, sagte er und betrachtete geistesabwesend die zart geformte Tasse. Sie bestand aus dünnem Porzellan, und dicht unter dem Rand war ein winziger Panda aufgemalt.
Yao klappte den Schnellhefter zu und erhob sich. Als er auf Shan zuging, hielt er seine eigene Panda-Tasse in der Hand. »Sie waren gewiß nicht immer so begriffsstutzig, Genosse. Wir möchten Ihren Sohn zu einem Besuch hierher nach Lhadrung bringen.« Er zog einen kleinen Schlüssel aus der Tasche und legte ihn vor Shan auf den Tisch.
»Warum?« fragte Shan ungläubig.
»Als Belohnung für Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Ein Ansporn, um uns Ihrer Unterstützung zu versichern. Es gibt eine internationale Verschwörung, die hier in den Bergen agiert. Falls Sie einwilligen, uns bei der Lösung unseres Problems zu helfen, ermöglichen wir einen
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