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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Shan schloß sich ihm an.
    Es roch schwach nach Weihrauch. Ein staubbedeckter Stofffetzenin einer der Ecken mochte ursprünglich die Decke eines Mönchs gewesen sein.
    »Hier drinnen haben sie gesessen, geschlafen, gegessen und gebetet«, sagte Shan. »Manchmal tage- oder wochenlang.« Er musterte Yao, der für eine Sekunde unschlüssig gewirkt hatte. »Wenn Tibeter meditieren, können sie sich an einen Ort begeben, den weder Sie noch ich je erreichen werden.«
    Yao runzelte die Stirn, hockte sich vor das Stück Stoff und leuchtete es ab. Er schien es nicht berühren zu wollen. »Das ist mein vierter Besuch in diesen Ruinen«, sagte er. »Jedesmal glaube ich etwas zu hören, aber sobald ich lausche, ist da nichts mehr, außer vielleicht eine Art Schwingung, wie ein altes Echo. Kein wirkliches Geräusch, eher eine Ahnung.«
    Shan sah ihn nachdenklich an. Der Inspektor bediente sich einer merkwürdigen Sprache. Manchmal klang er wie ein Polizist, manchmal wie ein Parteimitglied, aber bisweilen auch wie ein Professor. Yao erwiderte den Blick mit einer gewissen Belustigung. Wollte er Shan verspotten? Oder galt seine Herablassung dem gompa ?
    Der Inspektor stand auf. »Sie müssen eine Entscheidung treffen, Genosse«, stellte er kühl und ruhig fest. »Es gibt noch eine andere Vorgehensweise, nämlich die von Oberst Tan. Wir schicken Truppen in die Berge und schleppen jeden Mann, jede Frau und jedes Kind herbei, jede Ziege und jeden Yak. Dann warten wir ab, was für Geständnisse dabei herausspringen. Tan sagt, das funktioniert immer.«
    »Ich muß sicher sein, daß Sie mich nicht belügen«, sagte Shan. »Sowohl im Hinblick auf meinen Sohn als auch bezüglich Ihrer Ermittlungen.«
    Einen Moment lang schaute Yao verunsichert an Shan vorbei zum Eingang, als frage er sich, ob Shan ihn wohl nicht mehr aus dem Raum lassen oder gar in die Wasserrinne stoßen würde. Dann verhärtete sich seine Miene. »Ich habe Ihnen bereits alles gesagt.«
    »Ihre Tätigkeit ist beredter als Ihre Worte.«
    »Meine Tätigkeit? Als Ermittler für die höchsten Regierungsstellen? Sie haben viele Jahre lang das gleiche gemacht, Genosse.«
    »Ganz genau.«
    Einer von Yaos Mundwinkeln hob sich wie zu einem Lächeln. »Oberst Tan hat vorausgesagt, daß Sie unter allen Umständen und wider jede Vernunft versuchen würden, die Tibeter zu schützen. Er hat uns geraten, jedes Ihrer Worte sorgfältig zu bedenken, weil Sie nie etwas Zufälliges oder Dummes täten. Wie Sie sich erinnern, wollte er uns heute Soldaten mitgeben, aber ich habe es abgelehnt. Diesmal. Es war als eine Geste des Vertrauens gedacht, um Ihnen zu zeigen, daß für Sie tatsächlich eine Gelegenheit zur Rehabilitierung besteht.« Er trat einen Schritt vor, doch Shan rührte sich nicht. »Ich will nur die Wahrheit herausfinden«, sagte Yao.
    »Nein«, widersprach Shan. »Es stimmt, ich habe viele Jahre in Ihrem Beruf gearbeitet. Daher weiß ich genau, was Sie wollen, denn es ist immer das gleiche: Sie wollen den Fall abschließen und müssen zu diesem Zweck mit einer politisch verträglichen Lösung aufwarten. Einige Ankläger sind zu der Erkenntnis gelangt, daß Tibeter für jeden offenen Fall die idealen Täter darstellen. Es handelt sich um gesellschaftliche Außenseiter, und zudem sind sie genetisch minderwertig, wie manche Wissenschaftler gern aussagen werden. Niemand setzt sich für sie ein. Ihre Abneigung gegen Peking ist bekannt. Sie sind erklärtermaßen politisch unerwünscht, dabei aber kräftig genug, um viele Jahre Zwangsarbeit leisten zu können.«
    Yao runzelte erneut die Stirn und seufzte. »Bislang ist der Versuch Ihrer Rehabilitierung wohl eher ein Fehlschlag.« Er drängte sich hinaus auf den Gang, hielt inne, griff in die Tasche und reichte Shan einen Papierstreifen. Darauf stand eine lange Ziffernfolge, deren Aufbau vertraut wirkte. Shan schob unwillkürlich den Ärmel hoch und verglich die Zahlen. Es war eine lao-gai -Registrierungsnummer.
    »Das ist seine Kennung. Die Grube liegt im Nordwesten Xinjiangs«, erklärte Yao und bezog sich damit auf die riesige Provinz nördlich von Tibet, ein Land voller Wüsten und einsamer, unwirtlicher Bergketten, das als bevorzugte Region für Straflager galt.
    Shan umschloß das Papier mit der Faust. »Sie haben mirnoch immer nicht verraten, warum Sie hier sind. Es liegt nicht allein an dem Besuch des FBI-Agenten oder der Gleichzeitigkeit der Verbrechen.«
    »Ming hat unter den alten Papieren in Qian Longs Haus die Kopie eines

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