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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Opfer!« rief er. »Warum haben Sie …« Er beendete die Frage nicht, sondern nahm sich die Plastikmünze und betrachtete sie genauer. »Er war hier, das ist der Beweis.« Corbett reichte den Chip an Yao weiter. Der Inspektor runzelte die Stirn, warf aber nur einen kurzen Blick darauf.
    »Dieser Mistkerl hat schon wieder getötet«, sagte der Amerikaner und klang dabei fast hoffnungsvoll. »Und er hat dem Sterbenden diesen Chip hingeworfen, als Verhöhnung, als verächtliche Geste.«
    Er sah Shan an. »Wir haben Lodis letzte Reisen ermittelt. Er ist aus London in die USA geflogen, aber bevor er nach Seattle kam, hat er zunächst drei Tage in Nevada verbracht. In Reno.«
    Corbett hätte genausogut behaupten können, der Mann stamme nachweislich aus einem bayal , einem der mythischen verborgenen Länder. Das alles schien vollkommen unmöglich, so als hätten sich in dieser düsteren Kammer für kurze Zeit zwei verschiedene Welten überlappt. Zurückgeblieben waren ein Toter, ein neunköpfiger Gott und der Plastikchip einesSpielkasinos – und das mitten in einem vergessenen Tempel der Erdbändigung aus den Anfängen des tibetischen Buddhismus.
    »Surya kam nach oben und sagte, er habe einen Mord begangen«, erzählte Shan. »Wenige Minuten später bin ich dann hier eingetroffen. Er hätte die Leiche nicht wegtragen können, ohne von Kopf bis Fuß mit Blut besudelt zu werden, und hätte er sie über den Boden geschleift, wäre eine entsprechende Spur geblieben. Aber als ich den Raum betrat, war der Tote verschwunden.«
    »Weil Lodi noch hier unten gelauert hat«, sagte Corbett. »Er hat sich versteckt und abgewartet, bis er die Spuren seiner Tat beseitigen konnte.«
    »Die Diebe hatten sogar ein Vorratslager«, merkte Yao an und schilderte dem Amerikaner die Funde. »Der alte Mönch muß die Tat mit angesehen haben. Wahrscheinlich war er verängstigt und verwirrt und ist zurück nach oben gelaufen.«
    »Aber warum sollte Lodi ein Fresko stehlen, das sich ohnehin in Tibet befand?« fragte Shan.
    Der Amerikaner seufzte und starrte erneut in die Dunkelheit. »Was geht hier vor, verdammt noch mal?« Er klang plötzlich müde. Es schien, als würde er mit jemandem in den Schatten sprechen.
    Sie betraten den Korridor, der zur Treppe führte, und untersuchten die Wände. Die Gewölbe kamen Shan irgendwie unvollständig vor. Es gab keine gonkang , nur einen Vorbereitungsraum, in dem man beten und sich für die Begegnung mit den grimmigen Schutzgöttern wappnen konnte. Shan ging die dreieinhalb Meter bis zum Ende des Tunnels. Die Felswand hier bestand aus einer massiven Platte mit kleineren Steinen an den Rändern. Die Oberkante war leicht nach innen geneigt, und auf der glatten Fläche stand in großen roten Lettern das mani -Mantra. Shan leuchtete die Aufschrift aus mehreren Winkeln an. Die Farbe blätterte ab. Als er eines der Schriftzeichen berührte, fiel ein weiteres Stück zu Boden. Man hatte die Worte mit breitem schnellen Pinselstrich und längst nicht so elegant wie an den anderen Stellen aufgetragen. Shan widmete sich den Ecken der Nische und fuhr mit den Fingern über die Risse zwischenden kleineren Steinen. Da spürte er etwas Seltsames. Luft. Er hielt seine Hand vor eine der Spalten. Es drang ein kaum wahrnehmbarer Luftzug daraus hervor. Zögernd richtete Shan die Lampe nach oben. In mehr als drei Metern Höhe gab es einen Farbfleck, und zwar genau in dem Winkel aus Decke, rückwärtiger und linker Wand.
    »Was ist los?« ertönte hinter ihm eine schroffe Frage. Yao leuchtete nun ebenfalls in die Nische.
    »Gar nichts«, entgegnete Shan unschlüssig. »Da ist was auf dem Fels. Wahrscheinlich eine Flechte.«
    »Im Dunkeln wachsen keine Flechten«, wandte eine tiefe Stimme ein. Corbett kam näher, leuchtete kurz nach oben, trat dann dicht vor die Rückwand und musterte die Aufschrift. »Diese Farbe unterscheidet sich von allen anderen hier. Sie ist wesentlich jünger. Und irgendwie kommt sie mir wie ein billiger Fassadenanstrich vor.« Er hob eines der abgeblätterten Farbstücke auf und zog an beiden Enden. Es war elastisch.
    Shan schaute abermals zu dem Fleck unterhalb der Decke empor.
    »Ich wiege am meisten«, verkündete der Amerikaner. »Wer von Ihnen beiden möchte klettern?«
    Gleich darauf beugte er sich vor. Shan stieg erst auf seinen Rücken und dann mit Yaos Hilfe weiter auf die Schultern. Corbett richtete sich vorsichtig auf, und Shan stützte sich derweil an der Wand ab. Am Ende befand sich Shans Kopf

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