Der verlorene Sohn von Tibet
verzweifelt versucht hatte, den Hinweis auf den Erdpalast und die Höhle des Berggottes zu tilgen, damit niemand mehr den alten Pilgerpfad erkannte.
Yao setzte ebenfalls den Rucksack ab, nahm eine Wasserflasche heraus und trank, ohne seinen Begleitern einen Schluck anzubieten. »Spielen Sie doch mal den Fremdenführer«, sagte er. »Ich will erfahren, was Sie sehen, Genosse Shan. Sie reden wie ein Tibeter, aber haben Sie auch den entsprechenden Blick?«
»Ich kenne diese Ruinen nicht.«
»Aber Sie wissen, wie ein solches Kloster aufgebaut sein müßte.«
»In Tibet ist es nicht ratsam, irgendwelche generellen Rückschlüsse zu ziehen«, entgegnete Shan umständlich.
»Falls ich umkehre und Tan berichte, daß all seine Warnungen über Ihre Person sich als korrekt herausgestellt und Sie Ihre Chance auf Rehabilitierung dermaßen schnell verwirkt haben, wo wollen Sie dann noch Zuflucht finden? Glauben Sie, daß Sie jemals wieder Ihren Sohn zu Gesicht bekommen würden?«
Shan hielt Yaos Blick einen Moment lang stand und schaute dann in den dunklen Korridor, der vor ihnen lag. »Unter der Erde gibt es meistens eine gonkang «, sagte er, »einen Schrein für Dämonen und andere grimmige Schutzgottheiten. In der Nähe der gonkang könnten Ritualgegenstände untergebracht sein.«
»Ritualgegenstände?«
»Kostüme und Masken für Festtage. Besondere Gemälde, die nur bei feierlichen Anlässen hervorgeholt werden.«
»Schätze.«
»Ja, zumindest in den Augen der Mönche.«
»War diese Kammer mit dem Fresko eine gonkang ?«
Shan nahm eine der Lampen, kehrte zum Eingang des Raums zurück und leuchtete die Wände ab. Es deutete nichts auf einen Altar hin, und an der Decke klebte keine dicke Rußschicht, wie sie in gonkangs stets von den zahlreichen Butteropfern hinterlassen wurde. »Nein. Das ist nur eine Art Vorbereitungsraum für die gonkang . Man soll hier zu innerer Ruhe finden.«
»Ich bin ruhig genug«, drängte Yao. »Was noch?«
»Keine Ahnung. Hier unten könnten sich Lagerräume befinden, und zwar ziemlich viele bei einem so großen gompa .«
»Verstecke, meinen Sie. Genau das richtige für eine Diebesbande.«
Yao folgte dem gewundenen Gang in Richtung des Sturzbachs. Shan blieb dicht hinter ihm und hielt kurz inne, um ein zehn Zentimeter langes Holzstück zu inspizieren, das unlängst irgendwo abgesplittert war. Es gab hier weder Dielen noch Stützbalken oder sonst etwas aus Holz. Auf dem Boden hatte sich vereinzelt ein wenig Staub angesammelt, und man konntedarin eine frische Spur erkennen. Sie bestand aus zwei schmalen parallelen Linien im Abstand von knapp einem halben Meter. Man hatte hier keine Leiche, sondern etwas anderes durch den Tunnel gezerrt, eventuell eine provisorische Bahre. Yao wartete bei dem kleinen Wasserbecken und beleuchtete die verblaßte Aufschrift an der Wand. »Können Sie das lesen?«
Jemand hatte die Worte mit schwungvoller Hand vor vielen Jahren hinterlassen. Shan erkannte die Buchstaben für »Leben« und daneben die kleinen Abbilder menschlicher Gestalten. »Nein«, sagte er.
Als Shan dem verängstigten Amerikaner hinterhergeeilt war, hatte sich keine Gelegenheit ergeben, die Passage entlang des Wasserlaufs genauer in Augenschein zu nehmen. Während sie nun hinabstiegen, bemerkte er, daß man die verputzten Wände einst mit Gemälden verziert hatte. Die meisten davon waren inzwischen zu Staub zerfallen oder mit Rissen und Löchern übersät. In drei Fällen jedoch war die Zerstörung erst kürzlich und mit Absicht herbeigeführt worden. Man hatte Teile der Bilder mit transparentem Isolierband versehen und andere mit dünnem Seidenpapier überklebt. An der Oberkante gab es Spuren von Fräsen und Sägen oder Meißeln.
Yao fluchte leise und fing an, die bröckelnden Fresken genauer zu untersuchen. »In dem kaiserlichen Wohnhaus wurden keine Fingerabdrücke hinterlassen, nur Latexspuren«, sagte er. »Aber das hier sieht ganz und gar nicht nach einer professionellen Arbeit aus.«
»Alter Putz kann aus vielen verschiedenen Inhaltsstoffen angerührt worden sein und alle möglichen Eigenschaften aufweisen«, gab Shan zu bedenken. »Sogar ein Profi muß womöglich erst üben.«
Nach zehn Minuten gingen sie weiter und entdeckten ein halbes Dutzend niedriger Eingänge, die dicht nebeneinander lagen.
»Meditationszellen«, erklärte Shan. Sie leuchteten jeweils kurz hinein. Die Wände bestanden aus nacktem Fels, und es gab keinerlei Mobiliar. Yao betrat den letzten der Räume.
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