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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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an dessen Wand eine primitive Leiter lehnte, verlief noch weitere sechs Meter nach unten. Jemand hatte sich durch die Trümmer gegraben.
    »Demnach weiß irgendwer über Ihre Gewölbe Bescheid«, murmelte Corbett und ließ den Blick über das Gelände schweifen.
    »Warum gerade jetzt?« fragte Yao. »So viele Jahre sind vergangen, und auf einmal fängt jemand an zu graben.«
    Eine berechtigte Frage, dachte Shan. Konnten es die Mönche gewesen sein? Gehörte das alles irgendwie zu Genduns Plan, das gompa insgeheim zu neuem Leben zu erwecken?
    Der Amerikaner hob einen Zigarettenstummel vom Boden auf und zeigte ihn den anderen.
    »Lodi«, vermutete Corbett und deutete auf die kleine Aufschrift der Zigarette. »Er bevorzugt amerikanische Marken. Genau wie bei den Stummeln, die in der Nähe der Blutlache gelegen haben.« Er roch an dem Tabak. »Das Ding ist noch nicht alt, höchstens ein paar Tage.« Plötzlich erstarrte er und neigte den Kopf nach Süden. »Hören Sie das auch? Da weint jemand.«
    Shan und Yao sahen sich an. Shan hörte nichts.
    Corbett musterte die schroffe Landschaft im Süden und machte dann ein paar kleine zögernde Schritte in diese Richtung. Shan und Yao suchten die nähere Umgebung nach weiteren Spuren ab. Zwischen den Felsen befanden sich mehrere rechteckige Flächen mit nacktem Erdboden, wahrscheinlich ehemalige Gärten. An einigen Stellen gab es längliche schmale Abdrücke, eventuell von Stiefeln, aber der Wind hatte sie verweht und ließ keine präzisere Bestimmung zu. Als Shan aufblickte, war Corbett nicht mehr da. Yao starrte die kopflose Statue an und wirkte seltsam beunruhigt.
    Ein jähes Stöhnen durchbrach die Stille. Shan lief zu dem Fleck, an dem er den Amerikaner zuletzt gesehen hatte. Corbett saß kreidebleich auf einem Felsen und hob warnend die Hand.
    »Das wird mir allmählich zuviel«, brachte er mühsam über die Lippen. »Was geht hier vor?«
    Yao lief an Corbett vorbei und verschwand hinter den Resten einer hohen Steinmauer. Shan folgte ihm und gelangte auf einen einstigen kleinen Innenhof. Dort bot sich ihm ein makabrer Anblick. Auf einem provisorischen Brettertisch lagen Gebeine. In der Mitte waren fast zwanzig alte, gelblich verfärbte Schädel ordentlich nebeneinander aufgereiht. Sie schienen die Neuankömmlinge aus ihren leeren Augenhöhlen anzustarren. Davor lagen zahlreiche kleinere Knochen. Eine vollständige Hand. Ein halbes Dutzend Oberschenkel. An beiden Enden des Tischesstand jeweils eine jener kleinen Kohlenpfannen, in denen man Dufthölzer verbrannte, um Götter anzulocken.
    Yao blieb wie angewurzelt stehen, während Shan den Tisch umrundete.
    »Wie nach einem Blutbad«, sagte eine tiefe Stimme. Shan sah Corbett neben Yao stehen. Der Amerikaner hielt sich den Bauch. »Hier muß ein regelrechtes Gemetzel stattgefunden haben. Wir brauchen Gerichtsmediziner und die Spurensicherung.«
    Yao sah Shan an. Dann senkte er den Blick und holte seinen Notizblock hervor. »Nein, das ist nicht nötig«, sagte er leise. »Das hier hat nichts mit unserem Fall zu tun.«
    Doch Shan war anderer Ansicht. Die Trümmer in dem tiefen Treppenaufgang konnten von einer Kapelle stammen, und an jenem furchtbaren Tag vor fast fünfzig Jahren hatten einige Mönche sich vielleicht darin versammelt, als das Ende nahte. Nun war jemand durch den Schutt vorgedrungen. Womöglich handelte es sich gar nicht um Plünderer, sondern um Tibeter, die den Toten endlich die letzte Ehre erweisen wollten.
    Als Shan sich über den Tisch beugte, trat Corbett einen Schritt vor.
    »Da stehen Verwünschungen.« Yao wies auf eine Schriftzeile am Rand eines dicken Bretts. »Leute, die so etwas tun, hinterlassen Bannflüche, damit niemand sich einmischt.«
    Shan betrachtete die Worte. Sie waren erst kürzlich mit einem Stück Kreide oder Verputz aufgeschrieben worden. Es gelang ihm nicht auf Anhieb, die tibetischen Schriftzeichen zu entziffern. Nach einer Weile wurde ihm klar, daß er zwar die einzelnen Worte, aber nicht den Sinn ihrer Aufeinanderfolge verstand. Er las sie wieder und wieder. »Das ist kein Fluch«, sagte er schließlich. »Da steht …«
    »Was denn?« fragte Corbett, der den Blick nicht von den Gebeinen abwenden konnte.
    Shan hatte vor lauter Erstaunen unwillkürlich hinaus auf das Ruinenfeld geschaut. »Da steht folgendes«, sagte er und zeigte beim Lesen auf die jeweiligen Worte. »Nicht die Zeit, sondern die Schönheit hat uns ereilt.«
    Ehrfürchtig strich er über den ersten der gelben

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