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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Schädel, als würde er die Wange eines lieben alten Freundes berühren. Als Shan aufblickte, starrte Yao ihn merkwürdig herausfordernd an.
    »Das beweist nur, daß hier Tibeter am Werk sind«, sagte Yao und fand zu seinem sachlichen Tonfall zurück. Er nahm einen der Oberschenkel vom Tisch. »Sie sagten doch, Sie hätten einen solchen Knochen in den Gewölben gesehen. Die werden von den Tibetern weiterverarbeitet, nicht wahr, Genosse?« Er klang, als wolle er Shan zu einem Geständnis zwingen.
    »Ja, man macht daraus Trompeten«, bestätigte Shan.
    »Und die werden dann mit Silber überzogen«, fügte Yao hinzu. »Vielleicht will Lodi sie in Lhadrung verkaufen, oder er verschifft sie als angebliche Antiquitäten nach Übersee. Falls er und seine Komplizen tatsächlich so wild auf alte Knochen sind, dürften sie bei der Beschaffung wohl kaum zimperlich sein. Glauben Sie nicht auch?« Er wartete die Antwort nicht ab, sondern ging zu seinem Rucksack und griff hinein. Als er sich hinter die Steinmauer zurückzog, sah Shan in seiner Hand ein kleines schwarzes Funkgerät.
    Corbett betrachtete noch immer die Schädel.
    »Können Sie mir erklären, was gestern geschehen ist, als Sie beinahe ums Leben gekommen sind?« fragte Shan. »Ich verstehe es nämlich nicht.«
    »Was genau meinen Sie?«
    »Ich meine die alte Inschrift an der Wand. Sie hatte nichts mit William Lodi oder Ihrem Fall zu tun, und doch haben Sie die Stiefel ausgezogen, sind in das eiskalte Wasser gestiegen und fast in den Tod gestürzt. Weil Sie sich für alte tibetische Schriftzeichen an einer Wand interessiert haben.«
    Shans Worte schienen dem Amerikaner einen Stich zu versetzen. Corbett senkte den Kopf, trat dann vor und umkreiste den Tisch mit den Gebeinen. »Zuerst dachte ich, einer von denen hier könnte unser Opfer aus den Gewölben sein. Aber die sind alle schon vor vielen Jahren gestorben, nicht wahr?« fragte er nach einem Moment.
    »Ja.«
    »Demnach sind hier Grabräuber am Werk.«
    »Es gibt in diesem Teil von Tibet keine Gräber.«
    Der Amerikaner runzelte verärgert die Stirn. »Na klar. Niemand stirbt hier.«
    Shan sah zurück zu den Schädeln. »Was wissen Sie über die Geschichte Tibets, Mr. Corbett?«
    Der Amerikaner sagte nichts.
    »Was hat der Inspektor Ihnen über diesen Ort erzählt?«
    »Es hieß, das hier sei eine Art Schule gewesen. Eine alte Kunstschule, die schon vor langer Zeit geschlossen wurde. Wie es aussieht, muß das mindestens ein Jahrhundert zurückliegen. Sie stand auf Yaos und Tans Liste der möglichen Verbrecherverstecke.«
    »Es war ein Kloster, ein sogenanntes gompa . Die Armee und die Roten Garden haben fast alle tibetischen gompas zerstört, insgesamt viele tausend. Orte wie dieser, die zu abgelegen für den Einsatz von Infanterie waren, wurden aus der Luft bombardiert. Ich habe Augenzeugenberichte darüber gehört. Viele Mönche hatten noch nie Flugzeuge zu Gesicht bekommen, hielten sie für Himmelsgottheiten und winkten ihnen zu, als die Maschinen zum Angriff ansetzten.«
    Der Amerikaner schaute von Shan zu den Schädeln und zurück zu Shan. Im ersten Moment wirkte er beunruhigt, dann nur noch verwirrt. »Hören Sie, die Geschichte Tibets hat nichts mit mir zu tun. Das hier ist nicht mein Land. Ich bleibe bloß für ein paar Wochen, fahre dann nach Hause und komme nie mehr her.« Sein Blick wanderte langsam erneut zu den Schädeln. »Die haben einfach Bomben geworfen?« fragte er nach langem Schweigen. »Auf Mönche?«
    Shan verspürte einen Schauder auf dem Rücken. Als er sich umdrehte, stand Yao in dem verfallenen Torweg und starrte ihn wütend an. »Sogar in Ihrem Land, Mr. Corbett, haben Kriminelle vermutlich ganz eigene Ansichten über die Gesellschaft und ihre geschichtliche Entwicklung.«
    Corbett nickte zögernd. »Und dennoch«, sagte er nachdenklich und ging wieder zum Tisch. »Diese Schädel sind sonderbar. Ich habe ein Jahr bei der Gerichtsmedizin gearbeitet.«Er deutete auf die Nahtstellen der Knochenplatten. »Diese Leute sind alle ziemlich jung gestorben. Ich möchte wetten, keiner von denen war älter als vierzig.« Er zuckte die Achseln, ging dann an Yao vorbei und verließ den Innenhof.
    Yaos Gesicht war dunkelrot angelaufen, und seine Augen glichen Dolchen, die Shan nun durchbohrten. »Ich glaube, Oberst Tan hat sich geirrt«, knurrte der Inspektor. »In Wahrheit sind Sie ein Dummkopf. Die Verbreitung reaktionärer Ansichten schadet uns allen, am meisten aber Ihnen selbst. Ich bin mir nicht

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