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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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weniger als eine Armeslänge unter der Decke.
    »Und?« fragte Corbett ächzend.
    »Jemand sieht uns zu«, sagte Shan langsam. Auf einem Stück Verputz war hier ein Auge aufgemalt und wurde zum Teil durch die Rückwand verdeckt. Shan erkannte es sofort. Es war ein häufiges Symbol auf Wandgemälden und thangkas . Vermutlich gehörte es zu einem weitaus größeren Bild, das ursprünglich die gesamte Seitenwand eingenommen hatte. Die vermeintliche Rückwand des Tunnels war gar keine Rückwand, sondern eine herabgestürzte Deckenplatte. Der Einsturz ging wahrscheinlich auf die Bombardierung des Klosters zurück, aber danach hatte jemand sorgfältig alle Reste des Wandgemäldes entfernt,nur nicht das Auge, das dort oben in den Schatten verborgen blieb. Shan hielt sich oben im Winkel fest, leuchtete mit der anderen Hand nach unten und erkannte schnell, daß die kleineren Steine nicht zufällig gefallen, sondern mit Mörtel geschickt an Ort und Stelle befestigt worden waren. Jemand hatte absichtlich einen Teil der alten Ruinen getarnt.
    Als Shan von Corbetts Rücken stieg, wurde ihm klar, daß der Amerikaner Verdacht geschöpft hatte, denn er leuchtete den Winkel ab und beäugte den raffiniert versteckten Mörtel.
    »Also, was hat das alles zu bedeuten?« fragte Yao.
    Shan musterte die beiden Männer, spürte dann in seiner Tasche aber den Streifen mit der Registrierungsnummer, den der Inspektor ihm gegeben hatte. Er bat Yao um ein Stück Papier und skizzierte zwei Lagepläne. Dabei fing er am linken Rand des Blattes mit der Schlucht und dem oberirdischen Ruinenfeld an und markierte die Stelle, an der das Wasser aus der Felswand strömte. Dann drehte er das Blatt um und zeichnete – wiederum von links – den breiten Treppenkorridor, den Freskenraum und den Tunnel, der zu dem Sturzbach im Innern des Berges führte. Schließlich faltete er das Blatt in der Mitte, so daß die erste Skizze über der zweiten lag.
    »Sehr hübsch«, lobte Corbett. »Aber was wollen Sie damit beweisen?«
    Shan deutete auf die nach innen geneigten Felswände am oberen Ende der Treppe, die von den Sockeln zweier großer Gebetsmühlen flankiert wurden. Dann zeigte er auf eine etwas entfernte Stelle an der Oberfläche. »Es ist eine symmetrische Anlage. Die andere Seite wurde fast vollständig zerstört, aber wenn man den Hang über unseren Köpfen erklimmt, kann man dort eine identische Anordnung von Felswänden und Podesten erkennen, und zwar in gerader Linie von hier, knapp zweihundert Meter entfernt.«
    »Symmetrisch«, wiederholte Yao zweifelnd.
    Shan nickte. »Alles hier wurde sorgfältig von Künstlern und Lamas geplant.« Er klappte ein weiteres Mal die Skizzen übereinander. »Die Wände da drüben liegen exakt unserer Treppe gegenüber.«
    »Auch dort gibt es Stufen«, sagte Corbett.
    »Zwei Treppen, und zwar an den beiden Enden eines breiten unterirdischen Korridors«, bestätigte Shan. »Und das bedeutet, daß wir den Hauptteil der Gewölbe noch gar nicht gesehen haben.«
    Sie stiegen nach oben. Shan ging voran und hielt dabei unauffällig nach Gendun Ausschau. Fünf Minuten später standen sie auf der anderen Seite des gompa und betrachteten die Reste zweier Felswände, die genau gegenüber der westlichen Treppe lagen. Vor jeder der Wände stand ein Sockel. Große Skulpturen, vor allem Steinmetzarbeiten, kamen in tibetischen Klöstern nur selten vor, aber wie in so vielen anderen Punkten schien Zhoka auch in dieser Hinsicht eine Ausnahme darzustellen. Von der rechten Statue war nur noch ein lebensgroßer Fuß in einer Sandale übrig. Auf dem linken Podest saß im Lotussitz eine enthauptete Gestalt, die ein Mönchsgewand trug. Der Treppenaufgang zwischen den beiden Wänden war mit Schutt, Tonscherben und Felsbrocken gefüllt, auf denen Flechten und ein paar kümmerliche Sträucher wuchsen. Ein oberhalb gelegenes Gebäude war mitten in die Öffnung gestürzt.
    Corbett folgte dem Verlauf der nördlichen Wand, blieb in fünfzehn Metern Entfernung stehen und rief nach den anderen. Als Shan bei ihm eintraf, wies der Amerikaner nach unten auf eine Lücke im Schutt, ein etwa anderthalb Meter tiefes und ebenso breites Loch. Dann aber nahm Corbett einen Stein und ließ ihn in die Öffnung fallen. Der Kiesel prallte vom Boden ab. Das war keine flache Vertiefung. Es war ein Schacht, dessen Öffnung von einer braungrauen Plane verdeckt wurde, deren Farbe genau zu den Felsen paßte. Corbett bückte sich und hob eine Ecke der Tarnung an. Der Schacht,

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