Der verlorene Sohn von Tibet
Entlang der Wände standen Postamente mit Bronzestatuen. Shan kannte ähnliche Figuren aus Tempeln, Klöstern oder Museen, aber dort waren es nie so viele auf einmal gewesen. Inmitten der Weihrauchschwaden zählte er insgesamt vierzig Skulpturen, manche nur handspannengroß, andere deutlich höher als einen halben Meter. Vor einer der Statuen stand mit verzückter Miene Lokesh. Auf den äußeren Ring aus Figuren folgte ein innerer Ring aus Tischen und begrenzte in der Mitte des Raums eine Freifläche. Dort stand ein Dutzend Spannrahmen, wie sie bei der Anfertigung von thangkas genutzt wurden, und davor befand sich jeweils ein Kissen für den Maler. Neben den meisten Plätzen lagen Pinsel und Farben, doch gegenwärtig war nur eines der Kissen besetzt.
Eine Frau mittleren Alters verharrte dort vor einem der Rahmen, betrachtete nachdenklich ihr unvollendetes Werk, das mit Bleistift auf dem Baumwollstoff vorgezeichnet worden war, und reagierte in keiner Weise auf Shan und Yao, die sich nun näherten. Sie war vollkommen in ihr Gemälde vertieft, schien sehr besorgt zu sein und schaute mehrfach zu einem anderen, bereits fertigen thangka , das in drei Metern Entfernung noch immer auf den Rahmen gespannt war und von brennenden Butterlampen umgeben wurde. Ihre Pinsel lagen neben ihr.
»Hast du das gesehen?« fragte eine aufgeregte Stimme hinter Shan. Lokesh hatte ihn entdeckt. »Hast du das gesehen?« wiederholte der alte Tibeter und deutete auf das fertige thangka .
Shan sah genauer hin und erkannte den Stil. »Unmöglich«, keuchte er. »Das stammt von Surya. Aber das kann nicht sein.«
»O doch, das kann es«, sagte Lokesh in überzeugtem, wenngleich verwundertem Tonfall.
»Meine Kinder und ich wollten unsere Vettern besuchen, die als Hirten oberhalb des Tals leben«, warf eine sanfte Stimme ein. »Da haben wir ihn auf einem Berg getroffen. Er malte einen Buddha auf einen Felsen.« Die Malerin sprach von ihrem Platz aus und starrte derweil noch immer das unfertige Gesicht ihrer Gottheit an. »Zuerst hatten wir Angst. Meinen Kindern war in ihrem ganzen Leben noch kein einziger Mann in einem roten Gewand begegnet, und auch bei mir war es mehrere Jahrzehnte her. Manch einer hätte ihn gewiß für einen Geist gehalten. Wir haben uns angeschlichen und dachten, er habe uns nicht bemerkt, aber gerade als wir uns in dreißig Schritten Entfernung hinter einem Vorsprung verstecken wollten, drehte er sich um. Er balancierte einen Pinsel auf der Nase und breitete die Arme aus, als wären es Flügel. Meine Kinder mußten lachen. Er kam, setzte sich vor uns hin, nannte uns Pfeifhasen und fing an, wie einer von denen zu quieken.«
Die Frau stand mit traurigem Lächeln auf und ging zu dem fertigen thangka . »Als wir uns hervorwagten, lud er uns ein, die Gottheit zu treffen, die er gemalt hatte. Ich fing an zu weinen. Ich weiß nicht, warum. Ich habe geheult wie ein kleines Mädchen. Nach einer Weile nahm er meine Hand und legte sie aufdie Gottheit. Etwas schien durch meinen Arm zu fahren, ein seltsames Kribbeln, und dann war es, als sei das Weinen nicht länger ein Teil von mir.«
»Aber wann ist er hergekommen?« fragte Shan.
»Sein erster Besuch liegt jetzt fast ein Jahr zurück. Die meisten von uns hatten längst aufgehört zu malen und arbeiteten nur noch mit Metall. Er half uns herauszufinden, was falsch war.«
»Falsch?«
Die Frau rang die Hände. »Unsere Leute haben jahrhundertelang geholfen, Gemälde für den Erdtempel anzufertigen. Die lebendigen Götterbilder. Es gibt hier alte Bücher, in denen erzählt wird, daß einmal ein Lama herkam und sagte, er habe eines jener Himmelreiche betreten, in denen mittels eines Pinsels Segnungen erteilt würden und wo man aus Baumwolle und Farbe den Göttern ein Zuhause erschaffe.« Sie schaute verlegen nach unten.
»Aber wir sind vom Weg abgekommen«, fuhr sie gleich darauf fort. »Wir konnten herstellen, was die Sammler oder sogar die Museen wollten, doch für die Tempel waren wir nicht mehr gut genug. Wir hatten kein Ahnung mehr, wie man Feuer auf Stoff überträgt. Lodi sagte, es sei egal, denn es gäbe keine Tempel mehr, und mit Tempeln sei sowieso kein Geld zu verdienen. Aber wir wußten es besser. Mein Vater war einer unserer besten Maler, und er hat die Hälfte seiner Zeit mit Gebeten verbracht. Dann kamen drei schreckliche Winter hintereinander, und all die Alten sind gestorben. Ich glaube, wir haben vergessen, wie man betet.« Sie wandte den Kopf und nickte Liya zu, die
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