Der verlorene Sohn von Tibet
Fernbedienung, allerdings ohne zugehörigen Fernsehapparat. Ein ganzes Fach voller englischer Medikamente: Antibiotika, Schlaftabletten, Schmerzmittel.
Shan wandte sich zu den Betten um. Das Regal über der zweiten Schlafstätte glich einem Altar für den merkwürdigen Mann, der in Zhoka ermordet worden war. Ein Stück dahinter stand im Schatten jedoch ein zweiter, traditioneller Altar mit einem kleinen Messingbuddha, einem Pinsel und dem verblichenen Foto eines jungen Major McDowell, der neben einer Kanone posierte und mit einem Säbel ausholte, als wolle er im nächsten Moment eine Attacke anführen. Sein Mund wurde durch einen buschigen Schnurrbart verdeckt.
Auf einem kleinen Bücherschrank lagen rund zwanzig längliche Schmucksteine, die als Schutzamulette beliebten braunen dzi -Perlen, wie Lodi sie in Seattle verschenkt hatte, jede mit einem anderen eingravierten Muster aus weißen Linien. Im Fach darunter standen mehrere gebundene Bücher. Sie waren verstaubt und anscheinend seit Jahren nicht mehr angerührt worden. Shan nahm eines. Es enthielt Seiten aus dickemweißen Papier und hatte als Skizzenbuch gedient. Auf dem ersten Blatt stand auf tibetisch und in der Handschrift eines Kindes der Name Lodi. Die danach folgenden Zeichnungen waren schlicht, aber in gewisser Weise selbstsicher: Blumen, die Köpfe von Hunden und Yaks, heilige Symbole. Wie alle Kinder des Dorfes hatte auch William Lodi zweifellos schon früh angefangen, sich in den überlieferten Fähigkeiten seines Clans zu üben. Shan nahm ein anderes der Bücher. Es enthielt ebenfalls Skizzen von zumeist den gleichen Motiven, wirkte aber nicht mehr so kindlich. Die menschlichen Gesichter waren trauriger geworden, einige gar hohl und ausgemergelt. Neue Bilder tauchten auf, Zeichnungen von Flugzeugen und Autos. An manchen Stellen waren Zeitschriftenfotos eingeklebt: westliche Frauen, schnittige Sportwagen, westliche Speisen, sogar Telefone. Das letzte der Bücher enthielt Bilder von Frauen mit verführerischen Blicken, von Gurkhas und ihren Waffen, von chinesischen Kriegsgeräten, die explodierten. Auf den hinteren Seiten folgten weitere Porträts, die allesamt Westler zeigten. Die Personen sahen einander ähnlich, als seien sie verwandt. Shan erkannte eine von ihnen. Elizabeth McDowell. Er vergewisserte sich, daß Yao am anderen Ende des Zimmers in irgendeine neue Entdeckung vertieft war. Dann riß er die Seite heraus und steckte sie ein.
Als Shan das Buch zurückstellte, fiel ihm auf, daß seine Hände zitterten. Er hatte sich in fast jeder Hinsicht geirrt. Er hatte versucht, sich von Mitgefühl leiten zu lassen, wie Gendun es gewollt hätte, und war überzeugt gewesen, Surya könnte niemals in der Lage sein, einen Menschen zu töten. Er hatte geglaubt, in Zhoka müsse jede Art von Ausgrabung allein aus Ehrfurcht geschehen sein. Er hatte Bumpari als ein Zeichen der Hoffnung begriffen, als ein bewegendes Symbol dafür, daß die Tibeter sich auch heute noch auf ihre buddhistischen Überlieferungen zurückziehen konnten, um ihren Lebensmut und ihre Identität zu bewahren. Doch nicht Mitgefühl trieb die Ereignisse voran, sondern Gier. Lodi hatte das Künstlerdorf nicht unterstützt, um Traditionen aufrechtzuerhalten. Es war ihm um die Dinge gegangen, denen er über seinem Bett einen Altarerrichtet hatte. Liya mochte vielleicht tatsächlich glauben, daß Lodi sich nicht an Zhoka vergreifen würde, aber sie wußte nichts von dem Verbrechen, das er in Seattle begangen hatte.
Hinter Shan ertönte ein leises zirpendes Geräusch. Er drehte sich um. Yao hatte den Deckel eines flachen Kastens aufgeklappt, der auf seinem Schoß lag und nun zu leuchten begann. Es war ein Laptop-Computer. Shan verfolgte über Yaos Schulter hinweg, wie der Inspektor in schneller Folge Dateien öffnete und wieder schloß und dabei gutturale Laute der Zufriedenheit von sich gab. Kontoauszüge. Reiseunterlagen. Bestandsverzeichnisse mit langen Listen von Kunstwerken, aufgeteilt in die vier Kategorien »Stoffgemälde«, »Skulpturen«, »Ritualgegenstände« und »Masken«. Alles war in englischer Sprache gehalten.
Während Yao sich einen Überblick verschaffte und immer wieder nervös zur geschlossenen Tür schaute, ging Shan zu dem Kasten, in dem der Computer gelegen hatte, und tastete den Rand ab. Unter der Filzeinlage mit dem rechteckigen Umriß des Laptops lag ein kleines Stoffetui. Es enthielt ein halbes Dutzend Disketten. Shan betrachtete die Aufkleber der Datenträger und
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