Der verlorene Sohn von Tibet
Lagerraum auf Lodis Leichnam gestoßen war, habe ich lange bei ihm gesessen. Zuerst war ich nur unsagbar traurig, aber dann wurde ich wütend. Ich habe noch nie solchen Zorn empfunden.«
»Falls es tatsächlich die Vorräte dieser beiden Kerle waren, sind sie diejenigen, die in Zhoka Wandgemälde stehlen.«
Liya schloß kurz die Augen. »Lodi würde Zhoka niemals ein Leid zufügen«, versicherte sie. »Er hat nur verkauft, was wir selbst angefertigt haben. Unter keinen Umständen hätte er sich an den alten Schreinen vergriffen.«
»Neulich am Lagerfeuer mit Lokesh und Dawa … bist du da wegen Tashi so überstürzt verschwunden?«
»Jeder halbwegs vernünftige Mensch hält sich von Tashi fern.«
»Du bist vorher unterwegs nach Norden gewesen, dann aber doch hierher zurückgekehrt.«
»Ich habe euch an dem Abend belauscht und wußte daher, daß die Chinesen eine Möglichkeit gefunden hatten, deine Unterstützung zu gewinnen. Mir war klar, daß du am Ende herfinden würdest.«
»Es tut mir leid«, sagte Shan.
Liya zuckte die Achseln. »Das alles hat ohne dein Zutun angefangen.« Sie beobachtete nun Corbett, der auf der Treppe zur nächsten Ebene mit Dawa und den Kindern des Dorfes spielte.
»Warum ist Lodi nach Lhadrung zurückgekehrt?« fragte Shan.
Liya zuckte abermals die Achseln. »Wir haben ihn erst in einigen Wochen erwartet. Er tauchte plötzlich auf und war sehr aufgeregt und verängstigt. Dann ist er in sein Zimmer gegangen …« Sie nickte in Richtung des Raums mit den zwei Betten. »… und hat dort irgendwas gesucht. Am nächsten Morgen ist er nach Zhoka aufgebrochen.«
Corbett trug nun eines der Kinder auf den Schultern und stieg die Treppe hinauf. Der Anblick schien Liya zu faszinieren. Sie verließ ohne ein weiteres Wort die Veranda und folgte dem Amerikaner nach oben.
Shan ging wieder hinein und betrat das erste Schlafzimmer. Es kam ihm beinahe wie ein Schrein vor, und die gerahmten Zeichnungen schienen zu denen im Hauptraum zu passen. Der Künstler hatte großes Geschick und einen Blick für die wesentlichen Details bewiesen, so daß beispielsweise das Lachen einiger spielender Kinder oder die immense Kraft eines angeschirrten Yaks lebensecht zum Ausdruck kam. Der erste der Bilderrahmen enthielt allerdings keine Skizze, sondern einen Bogen Briefpapier. Am oberen Rand waren die Worte »Königliche Artillerie« aufgedruckt, flankiert von gekreuzten Kanonenrohren. Darunter stand in schwungvoller Handschrift ein englisches Gedicht. Shan las es mehrere Male und lächelte schließlich:
Ich schrieb einen Brief an Frau Mama
und erzählte ihr von einem Lama,
der sagte, sein Streben
sei nicht ewiges Leben,
sondern bloß ein roter Pyjama.
Shan hielt inne und holte das peche -Blatt hervor, das er in den Gewölben von Zhoka gefunden hatte. Die Handschrift der beklemmenden Zeilen entsprach der des Limericks über die roten Gewänder der Mönche. Beide Texte stammten von Bertram McDowell, dem Stammvater des seltsamen Clans der südlichen Berge.
Im zweiten Schlafzimmer stieß Shan auf Yao. Der Inspektor saß auf einem der Betten und zeichnete auf seinem Notizblock eine Landkarte.
»Ming hat Sie angelogen«, sagte Shan und faßte zusammen, was Liya ihm erzählt hatte. »Die Leute hier haben nichts Unrechtes getan.«
»Die Frau würde alles mögliche behaupten, um ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Soll ich nun ihr glauben oder einemhochrangigen Parteimitglied? Dieses ganze Dorf ist ein Verbrechernest. Die Einwohner haben William Lodi geholfen, einem Dieb und Mörder. Es gibt hier illegale Waffen. Man betreibt Schmuggel. Niemand ist registriert, niemand zahlt Steuern. Tan und Ming werden überaus erfreut sein und Ihnen vermutlich gestatten, wieder unterzutauchen.« Er verstummte und schaute zur Wand, als könne er dort etwas sehen, das Shan verborgen blieb. »Bei einer so großen Zahl von Verhafteten dürften allein die Verhöre einen ganzen Monat dauern.«
Shan musterte Yaos primitive Lageskizze. Sie war wertlos. Der Inspektor hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden.
Yao öffnete die Schranktür. Im Innern waren Kartons gestapelt, die offenbar zu den Gegenständen über dem zweiten Bett gehörten. Fast alle trugen Hochglanzetiketten mit englischer oder japanischer Aufschrift. Ein tragbarer Lufterfrischer. Eine Standleuchte. Ein elektrischer Haarschneider. Das Metallmodell eines Wagens namens Ferrari. Ein Kugelschreiber mit integrierter Glühbirne. Ein Gerät, das Funkwecker hieß. Eine
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