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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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streckte sie dann Yao entgegen, aufgefächert wie Spielkarten.
    Es waren rote Disketten, alle versehen mit einem bedruckten Etikett. Nei Lou , stand dort. Eine Verschlußsache, ein Staatsgeheimnis. Unter der Überschrift folgte jeweils eine zehnstellige Nummer, dann ein Bindestrich und eine einzelne Ziffer, beginnend bei eins, endend bei sechs. Shan gab Yao die letzte der Disketten. Der Inspektor steckte sie ins Laufwerk des Laptops.
    »Dieser Computer ist womöglich alles, was ich brauche«, sagte Yao und starrte dann überrascht auf den Bildschirm, weil dort das Foto eines vertrauten Pekinger Gebäudes erschien. »Das Museum für Altertümer«, sagte er verwirrt. »Mings Museum.« Das Bild verschwand und wurde durch die Worte Nei Lou abgelöst, deren riesige Buchstaben den gesamten Monitor ausfüllten und gleich darauf der Überschrift »Kapitel Fünfundvierzig« wichen, gefolgt von zahllosen winzigen Ideogrammen.
    »Noch ein neyig «, stellte Shan verblüfft fest. »Ein Leitfaden für Pilger.«
    Er musterte die Disketten, ließ Yao weiter die Dateien überprüfen und sah sich noch einmal im Zimmer um. Auf einem kleinen Tisch neben dem Bett lag eine Zigarrenkiste voller Fotos. Bei einer ersten schnellen Durchsicht fand Shan keines, auf dem Zhoka oder das Dorf abgebildet war. Dann nahm er sich die obersten Aufnahmen genauer vor. Man sah Leute vor einem Haus stehen, ausschließlich Westler, abgesehen von Lodi, der genau in der Mitte stand. Seine englischen Vettern, darunter eine jüngere Elizabeth McDowell. Es folgten Touristenbilder aus England, hauptsächlich von Schlössern und Kathedralen.
    In einem Umschlag am Boden der Kiste steckten Fotos einer anderen Gruppe von Leuten, aufgenommen an einem sandigen und windgepeitschten Ort. Es schien sich um eine archäologische Ausgrabungsstätte zu handeln. Elizabeth McDowell kniete dort im Staub, gleich daneben Direktor Ming. Beim nächsten Bild glaubte Shan seinen Augen nicht zu trauen. Er sah es lange an, schaute zu Yao und dann wieder auf das Foto. Es war eine Gruppenaufnahme mit McDowell, Ming und einigen Chinesen, die mit ihren Schürzen oder Hämmern und Meißeln wie Wissenschaftler wirkten. Neben Ming stand Lodi, und im Zentrum der Gruppe fiel sofort ein überaus fotogener, gutgekleideter Westler auf. Halb hinter ihm stand ein massiger Mann mit mongolischer Physiognomie neben einem schmalgesichtigen Han-Chinesen, der den Westler ansah, statt in die Kamera zu schauen, wodurch seine krumme Nase besonders gut zu erkennen war. Shan steckte das Bild ein, ebenso wie das folgende Foto, auf dem dieselbe Gruppe ihre Gläser zu einem Toast erhob. Die Leute saßen in einem großen Zelt an einer langen Tafel, auf der kleine Flaggen der Volksrepublik und der Vereinigten Staaten standen.
    Von draußen ertönte jäh ein tiefes Dröhnen. Yaos Kopf ruckte hoch, und er klappte den Deckel des Laptops herunter. Shan lief hinaus auf die Veranda. Auf der nächsten Ebene blies jemand ein dungchen , eines der langen, spitz zulaufenden Hörner, mit denen in einem gompa die Mönche zusammengerufen wurden.
    Als Shan und Yao die Felstreppe hinaufliefen, verstummte das Horn. Von den oberen Stufen eilten mehrere freudige Dörfler herbei und steuerten das langgestreckte Fachwerkgebäude hinter den Gärten an. Shan blieb stehen, hielt Yao zurück und beobachtete, wie die Tibeter in das Haus liefen.
    Als Shan und der Inspektor die Gärten erreichten, war nur noch ein einzelner Wachposten bei den Stufen zur obersten Ebene zu sehen. Alle anderen Dorfbewohner befanden sich in dem eleganten Gebäude. Shan betrat eine kleine Kammer, in der auf einem Tisch die fast fertiggestellte Statue eines pferdeköpfigen Gottes stand. An die Werkstatt schloß sich ein großer Raum an, dessen gewölbter Zugang von zwei stattlichen bronzenen Gebetsmühlen flankiert wurde. Am oberen Rand trug jede von ihnen in vergoldeten Lettern das mani -Mantra, und die Seitenteile waren mit kleinen Abbildern der heiligen Symbole verziert. Shan hielt kurz inne, bis ihm einfiel, daß er erst kürzlich eine fast identische Gebetsmühle gesehen hatte, allerdings verbeult und korrodiert, halb verschüttet in den Trümmern von Zhoka.
    Das Gebäude schien in zwei große Hallen unterteilt zu sein, von denen die erste wie ein Tempel wirkte, aber keinen Altar besaß. Die Tibeter hatten sich offenbar in der zweiten Halle versammelt, doch Shan nahm zunächst den ersten Saal in Augenschein. In mehreren kleinen samkangs schwelte Weihrauch.

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