Der verlorene Troll
ihre Beine weiter im Wasser trieben. Sollte die Flut diesen Baum entwurzeln, würden sie mit ihm treiben oder ertrinken. Made konnte den Mann - und auch sich selbst - auf keinen Fall noch auf einen anderen Baum ziehen.
»Bist du hungrig?«, begrüßte er den Fremden nach Art der Trolle.
Der Mann antwortete mit Worten, die Made nicht verstand, denen er aber entnahm, dass es ihm gutging. Der Mann sah fast so schlimm aus wie er selbst - sein Körper war zur Hälfte von blutigen Kratzern und Schrammen übersät, der Rest völlig verdreckt. Sein schwarzes Haar klebte ihm ebenso am Kopf wie bei Made, es war nur kürzer.
Nachdem er sich kurz ausgeruht hatte, half Made dem anderen, in die Astgabel des Baumes hochzuklettern. Dann zog er sich selbst hinauf, und sie drückten sich Rücken an Rücken aneinander, jeder die Arme um den Ast vor sich geschlungen. Aus der kleinen Baumgruppe war eine Insel geworden, eine überschwemmte Insel zwar, aber dennoch eine erkennbare Landmarke. Um sie herum erstreckte sich ein breiter See aus braunem Wasser, der das Tal von der einen Bergseite bis zur anderen zu füllen schien. In der Dunkelheit ließ sich das nicht genau erkennen.
Wieder sprach der Mann.
»Morgen werden wir unseren Weg deutlich sehen«, sagte Made, weil er dachte, der Morgen wäre für einen Mann so tröstlich wie die Nacht für die Trolle. Der Mann grunzte jedoch etwas, das nicht sehr getröstet klang.
Vom Himmel nieselte es.
Undeutliche, schattenhafte Umrisse glitten vorbei. Der Fluss trug sie aus der Dunkelheit, sodass sie einen kurzen Blick auf sie erhaschen konnten, und schwemmte sie wieder in die Finsternis zurück. Eine der Gestalten stieß ein trauriges Blöken aus, dann war auch sie wieder verschwunden. Made hielt nach weiteren Männern Ausschau, die es zu retten galt, aber als es dunkler wurde, konnte er nur noch den zerborstenen Ast vor sich erkennen, der im Strudel der Strömung hin und her peitschte wie der Schwanz eines aufgeregten Tieres.
Wund und erschöpft schlang Made schließlich die Arme um den Stamm wie ein Kind, das sich an den Hals der Mutter klammert. Dann lehnte er sich gegen die raue Rinde des Baumes und schloss die Augen.
Eine Hand schlug ihm leicht auf die Schulter. Er drehte sich um. Der andere Mann tat so, als schliefe er, indem er den Kopf zur Seite neigte und die Augen schloss.
»Ich weiß«, sagte Made. »Gute Idee. Etwas anderes können wir sowieso nicht machen.« Wieder lehnte er sich gegen den Stamm.
Diesmal schlug der Mann härter zu und traf mit seinen Knöcheln einen Nerv. Auf einmal war Made hellwach.
»He!«
Der Mann mimte wieder, er würde einschlafen, und tat dann so, als würde er vom Baum fallen. Made wollte ihm erklären, dass das nicht passieren würde, besann sich aber eines besseren.
Wie sie so Rücken an Rücken auf dem Baum saßen, und die nasse, kalte Haut des anderen spürten, entstand zwischen ihnen eine seltsame Intimität. Gleichzeitig konnten sie sich nur durch die abenteuerlichsten Verrenkungen ins Gesicht sehen. Made war noch nie so lange in der Gesellschaft eines anderen Menschen gewesen.
Er schob sich in eine aufrechte Position und drehte sich zur Seite, damit er den Mann besser anschauen konnte. »Keine besonders gemütliche Höhle, was?«
Der Mann fuchtelte mit einer Hand herum und wiederholte mehrere Male einen Satz. Made verstand ihn nicht, deshalb streckte er die Zunge heraus. Der andere Mann lachte, schüttelte den Kopf und wiederholte den Satz.
»Nein«, murmelte Made und streckte die Zunge heraus.
Der Fremde, offenkundig enttäuscht, schüttelte erneut den Kopf und artikulierte die Worte noch einmal sorgfältig.
Made schüttelte ebenfalls den Kopf hin und her.
Der Mann hob die Augenbrauen. Also hob Made seine auch. Der Mann schüttelte den Kopf. Nein. Kopfschütteln bedeutete also Nein. Made wusste nicht, warum es Nein bedeutete. Aber nun kannte er das Wort Nein.
Er berührte mit den Knöcheln sein Gesicht direkt unter seinem Mund, um zu sagen: Das ist es, was mich bei Kräften hält, und sagte dann seinen Namen. »Made.«
»Ma-döh«, antwortete der Fremde zögernd.
Made wiederholte die Geste. »Made, Made.«
»Mahdeh«, sagte der Fremde sorgfältiger.
»Mahdeh.« Er wiederholte die Geste voller Nachdruck.
»Mahdeh.« Der Fremde legte seine Knöchel an die gleiche Stelle. »Mund«, sagte er.
»Mund«, wiederholte Made.
»Mund!« Der andere Mann lächelte breit.
»Du hast einen guten Gestank, Mund«, sagte Made.
Nun, da sie
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