Der verlorene Ursprung
Kreditkarte aus ihrem Rucksack und hielt es in die Höhe, damit wir es sehen konnten. »Komme, was wolle«, sagte sie ernst, »ich muß die Stimmen der Yatiri aufzeichnen.« Bei diesen Worten zog sie ihre Bluse an einer Seite aus der Hose und klebte sich das winzige graue Aufnahmegerät an die milchweiße Haut des Bauchs. Es sah aus wie eines dieser Heftpflaster für Nikotinsüchtige, die sich das Rauchen abgewöhnen, nur unwesentlich größer.
»Falls sie nicht einverstanden sind, nicht wahr?« sagte Lola.
»Genau. Ich will kein Risiko eingehen. Ich brauche ihre Stimmen, um diese später zu analysieren.«
»Aber reicht die Qualität solcher Aufnahmen denn?«
»Es arbeitet digital«, erklärte Gertrude, »und macht gute Tonaufnahmen. Das einzige Problem sind die Batterien. Die halten nur drei Stunden. Aber das wird wohl reichen.«
Nach wenigen Metern entdeckten wir einen Eingang. Drei Tore, haargenau wie das Mondtor von Lakaqullu, bildeten ein perfekt erhaltenes Portal von wahrhaft gigantischen Ausmaßen. Im oberen Teil des mittleren erahnte man ein Tocapu quasi als Adelswappen. Der Ort war verlassen. Die Yatiri waren offensichtlich vor langer Zeit von dort weggezogen, doch nur Gertrude traute sich, es laut auszusprechen: »Sie sind nicht mehr da«, sagte sie.
Das genügte, um uns alle von dieser unumstößlichen Wahrheit zu überzeugen.
»Dann kannst du ja das Aufnahmegerät getrost wieder wegstecken«, murmelte Efrain enttäuscht.
Nein, die Yatiri waren nicht mehr da. Diese mysteriöse Stadt, die man jenseits des eindeutig im Tiahuanaco-Stil gehaltenen Portals nur erahnen konnte, war ein einziges Trümmerfeld, verlassen, verfallen und vom Urwald wieder überwuchert.
Obwohl wir wußten, daß wir dort nichts finden würden, gingen wir durch das Tor und folgten schweigend einer Art Straße. Auf beiden Seiten entdeckten wir zweistöckige, aus perfekt ohne Mörtel zusammengefügten Steinquadern errichtete Häuser. Viele waren schon verfallen, doch manche waren noch vollständig erhalten, einschließlich der mit Steinziegeln gedeckten Dächer. Und alles in Grün, einem leuchtenden Grün, das infolge der Luftfeuchtigkeit, die sich niederschlug, im Sonnenlicht schillerte.
Wir folgten der Straße, bis wir zu einem weitläufigen viereckigen Platz gelangten, wahrscheinlich dem Kalasasaya-Tempel nachempfunden. In der Mitte stand auf einem Sockel aus schwarzem Stein ein gigantischer Monolith in der typischen Gestalt des bärtigen Giganten von Tiahuanaco. Dieses Mal fiel uns besonders die große Ähnlichkeit mit dem Reisenden auf, der in der geheimen Grabkammer der Pyramide von Lakaqullu ruhte: mehr als drei Meter hoch, Raubtieraugen, lange Ohren mit dem typischen flachen, runden Ohrschmuck der Aymara und Inka und der lange, kegelförmige Schädel infolge der Deformation der vorderen und hinteren Schädelknochen. Die Yatiri waren zweifellos hiergewesen und lange genug geblieben, um eine neue Stadt im gleichen Stil zu errichten wie die, welche sie auf dem Altiplano zurückgelassen hatten. Über den gesamten Platz verteilt fanden sich Steinstelen wie die von Tiahuanaco, mit Bilderreliefs von stilisierten menschlichen Gestalten mit Bart, die mit ihren Blicken den vier von den Ecken des Platzes ausgehenden Straßen folgten. Über eine von ihnen waren wir auf den Platz gelangt.
»In die Richtung«, befahl Efraín und wandte sich nach rechts.
Während wir hinter dem Archäologen her in die angegebene Richtung liefen, über eine mit der vorherigen vollkommen identischen Straße, wurde mir erst bewußt, daß wir die Anstrengungen der Dschungelwanderung mit ihren tausenderlei Gefahren ganz umsonst auf uns genommen hatten: Die Yatiri waren nicht da, und wir wußten nicht, was aus ihnen geworden war. Die Karte auf der Goldtafel endete genau an dem Punkt, wo wir uns jetzt befanden. Und wir hatten keine Ahnung, wohin wir uns noch wenden sollten, und vor allem, wozu? Vielleicht existierten die Yatiri ja nirgendwo mehr. Das war am wahrscheinlichsten. Vielleicht waren sie längst in alle Winde verstreut, ausgestorben oder von wilden Indianern angegriffen und getötet worden. Hier war für uns Endstation, hier endete unsere Hoffnung. Von jetzt an gab es für uns nichts mehr zu tun. Oder doch: die Millionen Goldtafeln aus der Pyramide des Reisenden zu übersetzen, damit eines Tages eventuell ein Weg gefunden wurde, um Daniel zu heilen. Falls er - und wir alle -nicht schon längst tot waren. Der verfluchte Dschungel, die Reise, die
Weitere Kostenlose Bücher