Der verlorene Ursprung
Zeichensprache erklärte mir der Alte, der Medizinmann des Stamms, daß es Bremsenlarven waren, die wie Mücken bestimmte Personen anderen vorzögen. Logischerweise erwachte in Gertrude Bigelow der Forschergeist. Die Ärztin und Hobbyanthropologin folgte von dem Augenblick an dem Schamanen wie ein Schatten, restlos fasziniert von dem, was sie lernte.
Nach dieser widerwärtigen Erfahrung geriet ich jedesmal in Panik, sobald sich mir eine Bremse näherte, und auch meine Kameraden entwickelten eine ausgeprägte Phobie gegen diese Insekten. Am Ende halfen wir uns gegenseitig, sie zu vertreiben, denn sie stachen selbst durch die Kleidung hindurch. Das einzig Gute war, daß die Abszesse sich auf der Stelle schlossen, sobald der Alte die Larven herausgezogen hatte. Sie heilten in wenigen Tagen mit Hilfe eines Öls ab, das die Indianer aus der Rinde eines Baums gewannen - mit seinen dunkelgrünen Blättern und weißen Blüten ähnelte er dem Jasmin -, in den sie einfach die Kralle des Ameisenbären hineinrammten. Die Art, wie der Schamane meine Schmerzen linderte, stand jedoch auf einem anderen Blatt: Sie verlangten, daß ich mich in der Nähe eines Wassertümpels mit nackten Füßen auf die feuchte Erde stellte. Dort strich er mir mit den dicken Köpfen mehrerer Zitteraale über die Waden. Unnötig zu erwähnen, daß das eine Reihe elektrischer Schläge auslöste. Diese wirkten merkwürdigerweise betäubend, wodurch der Schmerz für mehrere Stunden vollkommen verschwand.
Diese Indianer verstanden es, in ihrer Umwelt alles zu finden, was sie benötigten. Aus einem Baum, der viel an Wasserläufen wuchs, gewannen sie ein weißes Harz, das durchdringend nach Kampfer roch und sowohl die gefürchteten Ameisen als auch Zecken vertrieb. Sie brauchten bloß ein Stück Rinde abzureißen, und schon floß das Harz. Anschließend strichen sie es sich auf verschiedene Körperpartien oder verteilten es an den Bäumen, an denen sie ihre Hängematten befestigten. Im Laufe der Zeit machten wir es ihnen natürlich nach - das ist immer noch die beste Art zu lernen. Und als unsere Kleidung restlos zerfetzt war, kamen wir auf die ausgezeichnete Idee, das über den Knien abzuschneiden, was von unseren Hosen noch übrig war, und die kleinen Verletzungen und Prellungen in Kauf zu nehmen. Am Ende spürten wir sie tatsächlich nicht mehr.
Wie sehr ich mich veränderte, war mir selbst kaum bewußt. Und nicht nur ich, sondern auch meine Gefährten aus der Zivilisation, wir paßten uns schließlich perfekt dem täglichen Rhythmus des Dschungellebens und den fremden Gewohnheiten der Toromonas an. Trotz der Feuchtigkeit und der ständigen Insektenstiche erfreuten wir uns während der gesamten Reise ausgezeichneter Gesundheit. Das lag Gertrude zufolge daran, daß sumpfige und dicht mit Unterholz bewachsene Gegenden, in denen die tropische Hitze fehlt, generell gesünder sind als Orte mit trockenem Klima. Noch spürten wir keinerlei Zeichen von Müdigkeit. Wir konnten den ganzen Tag in zügigem Tempo durchmarschieren, ohne gegen Abend völlig erschöpft zu sein. Und wir lernten, unvorstellbare Dinge zu essen und zu trinken -Marc ekelte sich natürlich am wenigsten. Wir schwiegen stundenlang, hochkonzentriert, immer auf der Hut, um eventuelle Alarmzeichen des Dschungels zu erkennen. In meinem Fall war die Veränderung am spektakulärsten, da ich von uns sechs am wenigsten naturverbunden und daher am Anfang übervorsichtig war, ja mich manchmal geradezu anstellte. Dennoch hatte ich innerhalb von kurzen drei Wochen gelernt, mit dem Blasrohr zu schießen. Ich erkannte den Baum mit der saftigen rotbraunen Rinde, aus dem man ein nahrhaftes Getränk gewinnen konnte - obwohl es nach totem Esel stank, schmeckte es genau wie Kuhmilch. Ich hackte die giftige Schlingpflanze klein, die wir ins Flußwasser mischten, um die Fische zu jagen, die uns als Mittags- und Abendmahlzeit dienten. Ich probierte selbst und schaute mir bei den Toromonas ab, welche Blätter man als Toilettenpapier benutzen konnte und von welchen man sich fernhalten sollte, weil sie Giftstoffe enthielten. Und ich erkannte ganz selbstverständlich die Kielspur der Kaimane oder Anakondas, die lautlos dahinzogen, wenn wir ein Bad im Fluß nahmen.
Das war bei weitem nicht alles, sondern nur das Allernötigste, um zu überleben. Man kann sich nicht in wenigen Tagen aneignen, was man ein Leben lang trainiert haben muß. Ich war nur ein Tourist. Eine sonderbare Sorte von Tourist, nicht aber einer jener
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