Der verlorene Ursprung
gewußt, was zu tun war, nämlich ihn töten und so zum Schweigen bringen. Wo wir, die technisch versierten Großstadtgewächse, nur Blätterwerk, Baumstämme und Wasser sahen, erkannten sie die Zeichen des Codes, nach dem die >grüne Hölle< funktionierte, und wußten angemessen darauf zu reagieren. Als ich mir diese tätowierten, primitiv wirkenden Indianer noch einmal genauer anschaute, war ich mir sicher, daß wir gar nicht so unterschiedlich waren. Wir nutzten unsere Fähigkeiten nur in einer ganz anderen Umgebung, in die wir zufällig hineingeboren waren. Daß sie über kein elektrisches Licht verfügten oder nicht von acht bis drei arbeiteten, hieß noch lange nicht, daß sie dümmer waren. Nein, sie waren sogar privilegiert, weil sie verstanden, die Fülle an natürlichen Ressourcen vor ihrer Nase schlau und effizient zu nutzen. Der Respekt, den ich in diesem Augenblick ihnen gegenüber empfand, sollte im Laufe der folgenden Tage noch wachsen.
An dem Abend aßen wir gegrillten Tukan - das Fleisch erwies sich als sehr zart und saftig - mit Leguaneiern, die unsere Gastgeber so selbstverständlich aus verschiedenen Astlöchern holten, als nähmen sie sie aus dem Regal eines Supermarkts. Die imposanten Echsen verharrten starr und reglos auf dem Baumstamm und sahen zu, wie die Indianer seelenruhig ihre Eier mitnahmen. Diese waren ziemlich groß, ungefähr vier Zentimeter lang, und sowohl roh als auf den heißen Steinen im Lagerfeuer gebraten richtig lecker. Zum Nachtisch verschlangen wir überreife Früchte in reichlichen Mengen. Sie waren so groß wie dicke Äpfel, mit vielen Kernen und nur wenig Fruchtfleisch, rochen und schmeckten merkwürdigerweise wie Ananas. Wir aßen in Obhut der Indianer mehr und besser als diese faden Konserven aus Büchsen, Gläsern oder in Pulverform bisher. Und als wir unsere Hängematten aufhängten - die Indianer hatten ihre eigenen aus feinen Pflanzenfasern, die zusammengefaltet in eine Hand paßten -, schlief ich schließlich ohne Sorge ein. Ich träumte, ich führe mit meinem Auto in die Calle Xiprer, um Daniel und seine Familie zu besuchen, und hätte die ganze Straße frei, um zu parken, wo ich wollte, ohne den Wagen auf dem Gehweg abstellen zu müssen. All das konnte ich meinen Leidensgenossen nicht erzählen, weil unsere Aufpasser uns nicht miteinander reden ließen, bis sie zwei Tage später befanden, es sei nicht mehr notwendig, uns zu bewachen, da wir uns in unser Schicksal fügten.
Eigentlich hatten wir das ziemlich schnell getan, bald sogar gerne und voller Staunen, nämlich bereits in der ersten Nacht nach dem Abendessen. Unsere freundlichen Gastgeber scharten sich um das Feuer und erzählten. Es mußten lustige Dinge sein, denn sie lachten sich halb tot. In diesen Geschichten oder Legenden fiel immer wieder ein bestimmtes Wort, meist wenn sie auf sich selbst oder auf alle Anwesenden zeigten. Das Wort lautete >Toromonas<. Hatte dieser Mann mit seiner Karte der Einwohner Boliviens am Ende womöglich recht? Ich tauschte einen vielsagenden Blick mit Marta. Wie hieß er noch gleich? Ach ja, Pedro Pellisier Sanchiz ... Lebten tatsächlich noch Toromonas, Mitglieder dieses angeblich während des Kaut-schuckriegs im 19. Jahrhundert ausgestorbenen Stamms? Die Verbündeten der Inka sollten ihnen bei der Flucht vor den Spaniern geholfen haben, im Regenwald des Amazonas unterzutauchen, der Legende zufolge mitsamt dem mythischen Eldorado. Hatten die Toromonas nicht den eigentlichen Inka geholfen, sondern den weisen Yatiri? Unseren priesterlichen Capaca aus dem Volk der Aymara, dem »Volk aus uralten Zeiten«, das aus Tiahuanaco oder Taipikala stammte? Wir wußten, daß sie den Eldorado nicht mitgenommen, sondern in der Grabkammer des Reisenden zurückgelassen hatten. Dafür hatten sie sich ihren wichtigsten Schatz bewahrt: ihre heilige Sprache, das alte Jaqui Aru, die »menschliche Sprache«, deren Laute oder Klang eine Einheit mit der Natur der Lebewesen und der Dinge bilden sollten.
Die Toromonas hatten jedenfalls die magischen Worte auf dem Platz der Ruinenstadt wiedererkannt. Und wir hörten an jenem Abend am Lagerfeuer unser Schlüsselwort, so daß zwischen uns und ihnen eine Nähe entstand, die viel verbindender sein sollte, als wir es in dem Augenblick ahnen konnten.
In der ersten Woche waren wir ununterbrochen auf den Beinen, folgten Schneisen oder Flüssen und drangen immer tiefer in den Dschungel vor, der sein Erscheinungsbild stetig änderte. Mal erschien er uns
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