Der verlorene Ursprung
bekam vor lauter Panik eine Gänsehaut. Die Indianer hingegen reagierten erleichtert, blieben stehen und bedeuteten uns mit Gesten, wir sollten uns ruhig verhalten. Sie reckten die Hälse und hielten nach etwas Ausschau, von dem wir nicht wußten, was es war. Die Schreie setzten sich in einem unharmonisch dissonanten Chor fort. Mein Bewacher streifte sich ein Lederband von der Schulter, an dem ein winziges Kästchen und zwei Stöcke hingen, die er geschickt zu einem zusammensteckte. Aus dem Kästchen holte er einen kurzen Pfeil, der an einem Ende eine kleine eiförmige Verdickung hatte, und steckte ihn mit dem einen Ende in das, was zweifellos ein echtes Blasrohr war, das erste, das ich zu sehen bekam. Er setzte es an die Lippen und beobachtete weiter aufmerksam die hohen Baumwipfel, die sich wie ein Kuppeldach über uns wölbten. Die Wächter meiner Freunde taten es ihm nach, so daß wir vorübergehend frei waren. Trotzdem wagten wir nur, uns ein paar aufmunternde Blicke zuzuwerfen und uns tröstend zuzulächeln. Die Schreie der Seelen im Fegefeuer wurden allmählich deutlicher, und etwas wie >Tokano, Tokano< schälte sich heraus. Schließlich machten ein paar Ureinwohner das Versteck des Sängerchors ausfindig. Auf einmal war eine Folge kurzer dumpfer Knalle zu hören wie Schüsse aus Luftgewehren, und ein Geräusch wie von fallenden Gegenständen aus großer Höhe im Geäst. Leider plumpste eines dieser Viecher nur Zentimeter neben mir herunter und wirbelte eine solche Menge Wasser auf, daß ich eine gehörige Dusche verpaßt bekam. Es entpuppte sich als ein prächtiger, ziemlich fetter Tukan mit einem beachtlichen Schnabel von fast zwanzig Zentimetern Länge und Schwanzfe-dern in den unglaublichsten Gelb- und Orangetönen. Unglücklicherweise war er noch nicht ganz tot - der Pfeil steckte ihm zwischen Brust und einem der Flügel. Als mein Bewacher ihn packen wollte, wehrte er sich vehement und mit lautem Gezeter, was die anderen Indianer offensichtlich erschreckte. In heller Aufregung drängten sie meinen Bewacher mit lauten Rufen zur Eile. Doch bevor dieser reagieren konnte, tauchten Tausende von bisher unsichtbaren Vögeln wie aus dem Nichts über uns auf und hüpften unter furchterregendem Gekreische mit ausgebreiteten Riesenflügeln und aufgerissenen Schnäbeln wie wild von Ast zu Ast. Das versetzte mich dermaßen in Panik, daß ich die Arme unwillkürlich schützend vor das Gesicht riß. Zum Glück schaffte es mein Bewacher noch rechtzeitig - bevor diese entfernten Verwandten von Alfred Hitchcocks Die Vögel uns zerfleischten -, das verletzte Federvieh zu bändigen: Er drehte ihm erbarmungslos den Hals um. Mit dem Verstummen seines letzten kläglichen Krächzers fand die Attacke ein abruptes Ende. Die Tukane verschwanden im Dickicht, als seien sie nie dagewesen.
Lola war kreidebleich und stützte sich auf Marta, die, obwohl sie nicht viel besser aussah, ihren Arm um Gertrudes Schultern gelegt und sie an sich gezogen hatte. Marc und Efrain waren wie versteinert, unfähig, sich zu rühren oder auch nur einen Mucks von sich zu geben. Als die Indianer ihnen und mir die toten Vögel in die Arme legten, starrten wir uns völlig apathisch an, ohne recht zu merken, was wir trugen. Der Dschungel, den wir hier erlebten, hatte nichts mit dem zu tun, den wir bisher kennengelernt hatten. Wenn ich mir eingebildet hatte, den Ausdruck >grüne Höllec, den Marta, Gertrude und Efrain so häufig benutzten, allmählich zu verstehen, so war das ein Riesenirrtum. Was wir bisher erlebt hatten, war ein fast zivilisierter, geradezu zahmer Urwald im Vergleich zu dem Wahnsinn, dem wir in dieser unbändigen Wildnis begegneten. Meine Wut und Panik legten sich, als ich einen naheliegenden Gedanken hatte: Wenn etwas in der virtuellen Welt der Computer nur funktionierte, wenn der entwickelte Code schlicht und einfach, ohne sinnlose Schnörkel und überflüssige Anweisungen auskam, so mußten in der Wirklichkeit der >grünen Hölle< ähnliche Regeln herrschen. Wer hier den Code kannte und ihn korrekt anzuwenden verstand, für den funktionierte alles reibungslos. Das war der Fall für unsere Begleiter, die Indianer. Vielleicht wußten sie mit einem Computer oder einer simplen Verkehrsampel nichts anzufangen. Doch die Lebenswelt, in der wir uns jetzt befanden, kannten sie wie ihre Westentasche. Daher hatten sie die Attacke der Tukane vorhergesehen, als deren schwer verletzter Artgenosse diese kläglichen Laute ausstieß. Und sie hatten genau
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