Der verlorene Ursprung
um sie nach Lust und Laune zu dengeln.
»Habe ich es dir nicht gesagt?« redete meine Mutter weiter.
»Keine zehn Minuten wird die halten! Wo hast du nur deinen Kopf, mein Junge? Du hättest ihm doch eine Erinnerung an die Reise seines Onkels mitbringen können. Etwas, das er aufbe-wahren kann, bis er älter ist. Aber nein! Es muß natürlich eine fürchterliche Puppe sein, die der Kleine kaputtmacht, noch bevor wir aus der Wohnung sind.«
Mein Neffe kickte den Ekeko durch den Flur. Hin und wieder rutschte ihm ein Bein weg, und dann gelang es ihm nicht, den Gott weiter Richtung Wohnzimmer zu treten, wie er eigentlich wollte. Doch beim nächsten Versuch schlitterte der Nachfolger von Thunupa, dem Zeptergott, wieder einen Meter weiter und wischte den Fußboden. Der Kleine war glücklich, das Geschenk ein Volltreffer.
»Also, nun geht schon, geht«, ertönte eine schwache und zittrige Stimme auf dem Sofa im Hintergrund. »Sonst machen die Läden noch zu.«
Es war meine Großmutter. Was war nur mit ihrer Stimme los?
»Wolltest du denn nicht mit?« Ich musterte sie fragend, während ich Clifford die Hand schüttelte. Auch er sah besser aus als vor meiner Abreise. Mit der Zeit gewöhnt man sich an alles, und sei es noch so schmerzlich.
»Deiner Großmutter ist gerade schwarz vor Augen geworden«, erklärte meine Mutter. »Es war schon zu spät, dich noch anzurufen. Aber die Ärmste will uns den Tag nicht verderben und hat darauf bestanden, daß wir uns ohne sie auf den Weg machen. Du paßt doch auf sie auf, ja, Arnie? Du mußt dich um deinen Bruder und Oma kümmern, hast also die doppelte Verantwortung. Falls es schlimmer wird mit ihr . «, sie nahm ihre Handtasche und reichte Clifford den Beutel mit Danis Windeln, den Fläschchen, den Kleidern zum Wechseln, eben der unglaublichen Masse Sachen, die man für kleine Kinder dabeihaben muß, egal, wohin man will. »Hörst du mir zu, Arnau?«
»Natürlich, Mama«, sagte ich zerstreut und warf meiner Großmutter verstohlen einen Blick zu, der hätte töten können.
»Ich wollte sagen, wenn etwas mit Oma ist, rufst du mich sofort auf dem Handy an. Wird es denn gehen, Mama?« Sie beugte sich hinunter und drückte ihr einen Abschiedskuß auf die Wange.
Meine Großmutter setzte eine Leidensmiene auf, ertrug die Küsse und seufzte niedergeschlagen: »Macht euch keine Sorgen um mich. Genießt den Ausflug.«
Alle setzten sich wieder durch den Flur in Bewegung, und meine Mutter drehte sich noch einmal zu mir um und flüsterte: »Erschrick nicht, wenn du deinen Bruder siehst. Das Bett zehrt, du weißt schon. Er ist sehr dünn und ausgemergelt, aber das ist normal. Nimm es dir nicht zu Herzen. Und hab ein Auge auf Oma. Das mußte ja früher oder später passieren! Nicht, Clifford?«
Clifford nickte stumm.
»Denk nur, die Ärmste! Hat sich so darauf gefreut, daß wir alle mal rauskommen, und dann, in letzter Minute, fühlt sie sich nicht gut. Ob es ihr gefällt oder nicht, sie ist nicht mehr die Jüngste. So etwas kommt in ihrem Alter schon mal vor. Paß gut auf sie auf, Arnie! Nicht, daß es schlimmer wird und wir dann die Rennerei haben. Kümmer dich um die beiden, ja, mein Junge? Wenn wir nachher wieder hier sind .«
»Eulalia!« rief Ona, die auf dem Treppenabsatz stand und die Fahrstuhltür aufhielt.
»Also, wir sind dann weg, aber was ich noch sagen wollte«, redete meine Mutter weiter, obwohl ich die Wohnungstür sanft hinter ihr zu schließen versuchte, »was ich noch sagen wollte: Heute abend essen wir alle zusammen hier. Die ganze Familie, einverstanden?«
Nur über meine Leiche, dachte ich, heute abend habe ich weiß Gott Besseres vor!
»Eulalia!« drängte Ona. »In anderen Stockwerken warten Leute auf den Aufzug.«
»Ich komm ja schon, ich komme! Also, Arnie, vergiß nicht, was ich dir gesagt habe.«
»Ja, Mama«, und ich schlug die Tür zu und wandte mich zu der größten Lügnerin der Welt um, bereit, ihr den Kopf zu waschen. Sie war schon, frisch wie der junge Frühling, vom Sofa aufgestanden und erwartete mich lächelnd. Im Nachmittagslicht, das durch die Balkontür fiel, sah sie aus wie das blühende Leben.
»Was bist du eigentlich für eine alte Schwindlerin! Da genügt einmal beichten jedenfalls nicht, um das wiedergutzumachen, was du heute getan hast!« schrie ich und ging mit Riesenschritten auf sie zu.
»Ssscht! Nicht, daß sie uns hören!« Sie legte erschrocken einen Finger an die Lippen. »Komm her. Dachtest du etwa, ich wollte das verpassen?
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