Der verlorene Ursprung
ja?« sagte ich einfach. »Und jetzt laß uns was essen. Komm, hol deine Sachen. Ich warte.«
Für zwei Stunden waren wir die einzigen Gäste in dem Restaurant. Die Sommertouristen kamen nicht bis in dieses Viertel, und die Bewohner hatten die Stadt in Scharen verlassen. Außerdem ging sowieso niemand, der noch alle beisammen hatte, im August so früh auf die Straße, es sei denn, er wollte auf dem Asphalt schmelzen. Gegen ein Uhr nachts war ich wieder zu Hause, müde von der langen Reise und der Zeitumstellung -und vom Einsatz all meiner Möglichkeiten und meines Charmes, mit dem ich Marta einzufangen versuchte, ohne daß es ihr bewußt werden sollte. Nein, ich hatte sie nicht zugeschwallt mit Details aus meinem Leben und sie auch nicht mit ein paar skurrilen Anekdoten aus meinem Alltag gelangweilt. Ich hatte ihr einfach zugehört, sie angesehen und mich bemüht, herauszufinden, was ihr wichtig war. Wenn man sich in ein gut abgesichertes System hacken will, muß man die Schwachpunkte kennen und dann die Zugangscodes zu knacken versuchen. Als ich schließlich zu Hause ins Bett fiel, wollte ich mir unser Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen lassen und meine Strategie verfeinern. Doch in Bruchteilen von Sekunden war ich eingeschlafen und kam erst zwölf Stunden später wieder zu mir.
Als ich um die Mittagszeit die Augen aufschlug, fühlte ich mich beschwingt und zufrieden: Ich war mir sicher, daß ich eine wenn auch kleine Bresche in ihre Verteidigungsmauer geschlagen hatte. Die Welt war voller geschlossener Türen, und ich war dafür geschaffen, sie zu öffnen. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß Marta eine Herausforderung war, die jede Mühe lohnte.
Nach dem Frühstück wanderte ich ziellos durch Wohnung und Garten und genoß das Gefühl, wieder zurück zu sein. Ich war eigentlich nicht mehr müde, schlurfte jedoch nur träge herum. Trotzdem konnte ich nicht verhindern, daß ich schließlich in meinem Studio landete, um meine E-Mails abzurufen. An der Firma hatte ich kein Interesse, deshalb schaute ich nur in meine private Mailbox, von der ich geglaubt hatte, sie müsse überquellen. Ich fand zehn jämmerliche Nachrichten, von denen fünf von Proxi stammten und alle fünf von diesem Vormittag. Ich stutzte. Die Mails waren verschlüsselt, und ich mußte sie erst entschlüsseln, ehe ich verstand, weshalb Proxi sich soviel Arbeit damit gemacht hatte: Sie hatte von der CD, auf der wir alle Fotos aus Lakaqullu gebrannt hatten, eine Auswahl der schönsten Bilder von der Pyramide des Reisenden zusammengestellt. Ich hatte richtig einen Kloß im Hals, als ich erneut die in Stein gehauenen Helme am verborgenen Zugang zu den Schächten sah; die großen Augen und scharfen Schnäbel der Kondorköpfe; die Reliefs mit den Tocapu-Rätseln; die Treppe, die sich aus der Decke gelöst hatte und an dicken Ketten aus Gold hing; die Pumaköpfe, die über die gewaltige Tür zur Kammer des Reisenden wachten; den Fluch, der Daniel krank gemacht hatte und den ich selbst fotografiert hatte, um ihn auf dem Bildschirm am Laptop ansehen zu können; die endlose Reihe Goldtafeln voller Tocapus; den gewaltigen goldenen Sarkophag des Dose Capaca mit seiner Schädeldeformation; das Wandbild, mit dessen Hilfe man lernen konnte, die Tocapus auf der Einladung zur Suche nach den Yatiri zu entschlüsseln; die Goldtafel mit der Karte, auf der ein Weg nach Qhispita führte ...
Überwältigt saß ich lange vor dem Bildschirm und schaute mir wieder und wieder die Fotos an. Zum Glück war außer mir niemand im Haus, und so konnte ich einige von ihnen auf die großen Monitorwände schicken und fast in Originalgröße bestaunen, während ich in Gedanken zu jenen phantastischen Orten zurückkehrte und unsere Abenteuer nacherlebte. Proxis Kamera hatten die Toromonas ja leider verbrannt, und von unserem Aufenthalt im Urwald und in Qalamana war uns nichts geblieben als Gertrudes Aufnahme von der Audienz bei den Capacas, die sie mir anvertraut hatte. Einen Moment war ich versucht, sie mir anzuhören. Ich war neugierig, welche Wirkung die Macht der Worte hier bei mir zu Hause entfalten würde. Aber ich tat es nicht. Wenn alles nach Plan lief, warum sollte ich Gertrude die Freude verderben, mit mir gemeinsam daran zu arbeiten, während Marta und Efrain sich in Tiahuanaco die Haut von den Fingern scharrten? Außerdem wollte ich jetzt erst einmal die Doctora anrufen.
»Hast du einen Rechner mit Internetanschluß?« fragte ich wie aus der Pistole
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