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Der verlorene Ursprung

Der verlorene Ursprung

Titel: Der verlorene Ursprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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den Gardinen verdeckt. Das Zimmer war ein Backofen. Gegenüber der Tür lag der kleine Ankleideraum, den Daniel und Ona sich in einer Ecke des Zimmers abgetrennt hatten. Einige Schritte nach links gelangte man in das, was nach dem Umbau übriggeblieben war. Fast der ganze Raum wurde von dem riesigen Bett eingenommen, in dem mein Bruder lag. Bei seinem Anblick stockte mir der Atem.
    Daniel sah aus, als wäre er wirklich tot. Er war nicht zugedeckt und trug nur ein T-Shirt und eine kurze Pyjamahose. Er hatte mindestens fünfzehn oder zwanzig Kilo abgenommen und wirkte, wie meine Mutter gesagt hatte, ausgemergelt. Seine Augen waren offen, aber blicklos. Er reagierte nicht, als wir eintraten. Er lag reglos da, abwesend. Seine Arme ruhten schlaff auf den Laken. Meine Großmutter trat zu ihm, nahm ein Fläschchen vom Nachttisch und träufelte ihm zwei Tropfen in jedes Auge.
    »Künstliche Tränen«, erklärte sie. »Er blinzelt nicht genug.«
    »Laß Marta dahin, wo du stehst, sei so gut«, bat ich sie.
    Meine Großmutter warf uns einen unendlich traurigen Blick zu. Bestimmt war sie noch betroffen über das, was ich ihr erzählt hatte. Doch als die pragmatische Frau, die ich kannte, rang sie wohl auch darum, nicht zu große Hoffnung in unseren Versuch zu setzen. Sie strich Daniel das Haar aus der Stirn, zog das Kissen unter seinem Kopf glatt und trat dann gefaßt zu mir ans Fußende des Bettes. Marta stellte sich neben meinen Bruder und schaute ihn schweigend an. Ich hätte gerne gewußt, was in ihr vorging. Die beiden kannten sich lange, hatten über Jahre zusammengearbeitet. Daniel hatte Ona gegenüber kein gutes Haar an ihr gelassen, und Marta? Was dachte Marta über Daniel, außer, daß sie ihn für sehr intelligent hielt? Sie hatte es mir nie verraten.
    »Ich hoffe so sehr, daß es funktioniert«, flüsterte sie, hob jäh den Kopf und warf mir einen Blick zu. »Auf einmal kommt mir das alles so unsinnig vor, Arnau. So schrecklich absurd.«
    »Nicht drüber nachdenken«, versuchte ich sie zu ermuntern. »Schaden wird es ihm nicht, und schlechter als jetzt kann es nicht werden. Tu’s einfach.«
    »Komm, Liebes, versuch es«, sagte meine Großmutter leise.
    Marta beugte sich über Daniel und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wollte sie letzte Zweifel verscheuchen. »Jupaxusutaw ak munta jinchu chhiqhacha jichhat uksarux waliptana«, sagte sie langsam mit erhobener Stimme und sah Daniel dabei unverwandt an.
    Meine Großmutter zupfte mich verstohlen am Hemd, damit ich mich zu ihr hinunterbeugte, und flüsterte mir ins Ohr, was das denn bedeuten solle.
    »Das ist eine Formel«, raunte ich. »Die Bedeutung ist nicht wichtig, es kommt auf die Laute an, die erzeugt werden, wenn man sie ausspricht.«
    Da bewegte Daniel einen Arm. Sehr langsam hob er ihn an und ließ ihn auf die Brust fallen. Erschrocken wich Marta zurück, und meine Großmutter schlug sich beide Hände vor den Mund, um einen Freudenschrei zu ersticken, der sich in ihrem Blick äußerte. Fast im selben Moment drehte Daniel den Kopf auf dem Kissen und starrte uns an. Er blinzelte ein paarmal, zog die Stirn kraus und leckte sich über die trockenen Lippen, als erwachte er aus einem langen Schlaf. Dann versuchte er etwas zu sagen, aber aus seiner Kehle kam kein Laut. Marta, die noch immer nicht fassen konnte, was da geschah, kam aus der Ecke, um meiner Großmutter Platz zu machen. Sie trat rasch zu Daniel, und er folgte ihr mit dem Blick, wobei er sich wieder drehte. Diesmal versuchte er sogar, den Kopf zu heben, schaffte es aber nicht.
    Meine Großmutter setzte sich auf den Bettrand und streichelte ihm über die Stirn und das Haar. »Hörst du mich, Daniel?« fragte sie zärtlich.
    Er räusperte sich. Dann hustete er. Er wollte wieder den Kopf heben, und jetzt gelang es ein stückweit.
    »Was ist los, Oma?« war das erste, was er sagte. Seine Stimme klang rauh, als wäre er erkältet und hätte schlimmes Halsweh.
    Meine Großmutter umarmte ihn, drückte ihn fest an sich, aber Daniel gab sich einen Ruck, nahm sie an den Schultern und schob sie zurück. Sie strahlte. Ehe sie etwas sagen konnte, wandte er sich an Marta und mich. Die Muskeln in seinem Gesicht gehorchten ihm nicht.
    »Hallo, Arnau«, sagte er mit seiner kratzigen Stimme.
    »Hallo, Marta.«
    »Du warst sehr krank, mein Junge.« Meine Großmutter nötigte ihn, den Kopf wieder auf das Kissen zu legen. »Sehr krank.«
    »Krank ...?«: Er sah sie ungläubig an. »Und Ona? Und Dani?«
    Marta

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