Der verlorene Ursprung
schlug Jabba vor.
»Oh, der ist spitze!« Proxi rollte verträumt die Augen. »Alohomora! Obliviate! Relaschio!«
War das etwa meine beste Arbeitskraft? Die unglaubliche und erfahrene Softwareexpertin, der ich jedes Jahr ein Vermögen dafür zahlte, daß sie Sicherheitsmängel in unseren Programmen fand und Schlupflöcher in der Software der Konkurrenz? Meine Lieblingssöldnerin?
»Oder auch: Die tollkühne Hexe in ihrem fliegenden Bett.«
»Jetzt aber!« schrie ich. »Gib dieser Irren nicht noch Futter!«
»Treguna, Mekoides, Trecorum Santis Dee ...«, trällerte Proxi, ohne sich weiter darum zu scheren, daß die ganze Cafeteria sie grinsend beobachtete. » Treguna, Mekoides, Trecorum Santis Dee . «
»Genug! Ich hab’s kapiert, im Ernst. Die Wörter. Es liegt auf der Hand.«
»Da ist noch etwas«, bemerkte Jabba. »Sag du es ihm, Proxi.«
»Bei unserer Suche sind wir auf eine ziemlich seltsame Seite gestoßen über irgendwelche Ärzte, die in alter Zeit mit Hilfe von Kräutern und Wörtern heilten. Anscheinend hatten die eine magische und geheime Sprache. Wir dachten, das ist nur so ein Hokuspokus, aber jetzt .«
»Da, ich hab’s!« Jabba zog ein Blatt aus dem Stapel. »Die Yatiri, direkte Nachfahren der Herrscher von Tiahuanaco, wurden von den Inka als besonders edles Geschlecht verehrt. Sie waren natürlich Aymara und bei denen als Weise und gelehrte Philosophen hochangesehen. Hier steht’s: >Viele Ethnolingu-isten behaupten, daß die Sprache der Yatiri nichts anderes war als die Geheimsprache der Inka, in der sich die aristokratischen Langohren untereinander verständigten, während sonst das gewöhnliche Quechua verwendet wurde.<«
»Yatiri!«
»Ja und?« Proxi verstand meine Aufregung nicht.
»Genau das hat Daniel gestern gesagt! Er hat gesagt, daß er tot ist, weil die Yatiri ihn bestraft haben! Und dann hat er noch ein Wort dauernd wiederholt: Lawt’ata.«
»Was bedeutet das?« wollte Jabba wissen.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Aber ich muß es herausfinden.«
»Früher hättest du das gleich getan.«
»Versuch ihn zu verstehen, Jabba«, sprang Proxi mir bei. »Sein Bruder ist krank und liegt seit zwei Tagen hier in der Klinik.«
Jabba schnaubte. »Na, ausnahmsweise. Aber langsam erinnert mich unser Root an einen Computer ohne Betriebssystem, an eine Tastatur ohne Enter, an einen jämmerlichen Grünmonitor, an .«
»Jabba!« fuhr Proxi ihm über den Mund. »Es reicht.«
Doch Jabba hatte recht. Mein Kopf funktionierte nicht wie sonst. Vielleicht hatte ich wirklich Angst, mich zu blamieren und am Ende wie ein Idiot dazustehen. Ich bewegte mich auf sehr dünnem Eis, gefangen zwischen meiner eigenen rationalen und geordneten Welt und der rätselhaften und wirren Welt meines Bruders. Ich hatte immer in die Zukunft geblickt und er in die Vergangenheit. Jetzt galt es allerdings, nicht nur meine Art zu denken und meine Bewertungsmaßstäbe zu ändern. Ich mußte einige mir liebgewordene Vorurteile umstoßen und dazu einer Eingebung folgen. Nicht etwas Greifbarem, sondern mir fremden Mutmaßungen auf dem Gebiet der Geschichte.
»Laßt mir die Ausdrucke hier. Ich schaue sie mir heute nacht an, und morgen nehme ich mir die Sachen vor, die ich von meinem Bruder habe. Außerdem verschaffe ich mir einen Überblick über das, was noch da ist. Und wenn es Daniel bis übermorgen nicht besser geht«, ich sah die beiden entschlossen an, »rede ich mit der Doctora, die ihn mit dieser Forschungsarbeit betraut hat, und bitte sie um Hilfe. Sie muß mehr über all das wissen als sonst irgendwer.«
2. Teil
Zu unserer Bestürzung und zur Verwunderung der Ärzte besserte sich Daniels Zustand in den darauffolgenden zwei Tagen keineswegs. Diego, alias Dr. Hernández, und Dr. Miquel Llor waren von der Wirkungslosigkeit der Medikamente so beunruhigt, daß sie am Freitag noch kurz vor Dienstschluß die Behandlung umstellten. Trotzdem gestand Miquel meiner Mutter, daß er angesichts des unveränderten Krankheitsbildes Zweifel an der schnellen und vollständigen Heilung meines Bruders hegte. Nun hieß es, man könne allenfalls auf eine leichte Besserung bis Ende der nächsten oder Anfang der übernächsten Woche hoffen. Vielleicht wollte er vermeiden, daß wir uns eine falsche Vorstellung machten, und übertrieb seine Skepsis, um uns auf alle Eventualitäten vorzubereiten. Wir waren jedenfalls am Boden zerstört, insbesondere Clifford, der innerhalb weniger Minuten um zehn Jahre alterte.
Die Anwesenheit
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