Der verlorene Ursprung
glauben könnte, sie sei das Ergebnis eines durchdachten Entwurfs und nicht einer natürlichen Entwicklung. Die Aymara nennen ihre Sprache Jaqui Aru, >Sprache des Menschen<, und das Wort aymara bedeutet >Volk aus alter Zeit<.«
»Hör dir das an ...« Jabba wühlte sich durch den Stapel Ausdrucke, fand endlich, was er suchte, und blickte siegesgewiß auf.
»Dieser Umberto Eco, von dem Der Name der Rose ist, der ist offensichtlich ein Semiotiker von Weltrang und hat auch ein Buch mit dem Titel Die Suche nach der vollkommenen Sprache geschrieben. Darin heißt es: Der Jesuit Ludovico Bertonio hatte 1603 eine Arte de lengua aymara veröffentlicht und 1612 ein Vocabulario de la lengua aymara (also eine Grammatik und ein Wörterbuch der Aymara-Sprache) und war zu der Auffassung gelangt, daß es sich um eine Sprache von außergewöhnlicher Flexibilität handelte, mit einer unglaublichen Fähigkeit zur Bildung von Neologismen und so gut geeignet zum Ausdruck von Abstraktionen, daß ihm der Verdacht kam, es handele sich um den Effekt eines >Artifiziums<. Zwei Jahrhunderte später brachte der Peruaner Emeterio Villamil de Rada es fertig, das Aymara als >die Sprache Adams< zu bezeichnen, als Ausdruck >einer der Entstehung der Sprache vorangegangenen Idee<, gegründet auf >notwendige und unveränderliche Ideen< und somit die philosophische Sprache schlechthin, wenn es je eine gab.« Jabba sah mich triumphierend an. »Was sagst du jetzt?«
»Und das ist noch nicht alles«, setzte Proxi nach.
»Nein, längst nicht! Eco erklärt weiter, welche Charakteristika das Aymara aufweist und weshalb man es als vollkommene Sprache bezeichnen könnte. Allerdings geht er nicht so weit zu behaupten, es sei eine artifizielle Sprache.«
»Wie denn auch, eine artifizielle Sprache!« Mir platzte der Kragen. »Das ist doch Unsinn!«
»Nur, daß du uns richtig verstehst«, sagte Proxi geduldig, »eine Menge Studien aus der ganzen Welt behaupten übereinstimmend, das Aymara funktioniere wie eine Sprache, die nach denselben Regeln konzipiert ist, nach denen man heutzutage Programmi er sprachen entwirft. Es besteht im Grunde aus zwei Elementen, aus Stämmen und Suffixen, die für sich genommen keine Bedeutung haben. Wenn man sie jedoch zu langen Ketten verbindet, läßt sich mit ihnen alles ausdrücken . Genau wie in einer mathematischen Sprache! Außerdem«, redete sie hastig weiter, weil sie sah, daß ich bereits den Mund zum Protest geöffnet hatte, »behauptet der bolivianische Mathematiker Ivan Guzman de Rojas, der sich als Computerlinguist seit Jahren mit dem Thema beschäftigt, daß die Silben im Aymara nach algebraischen Regeln kombiniert werden. Die sollen sogar ähnliche Eigenschaften aufweisen wie ein Polynomring und damit einen so hohen mathematischen Abstraktionsgrad, daß diese Sprache eigentlich unmöglich das Ergebnis natürlicher Evolution sein kann.«
»Und dabei darf man eins nicht vergessen«, schaltete Jabba sich ein. »Das Aymara hat sich nicht weiterentwickelt. Es ist nicht zu fassen, aber diese verflixte Sprache ist über Jahrhunderte oder Jahrtausende fast unverändert geblieben . Genauer gesagt, über etwa dreizehn Jahrtausende, falls sie die Ursprache ist.«
»Sie hat keine Wandlung durchgemacht, sich nicht verändert?« Ich war baff.
»Offenbar nicht. Sie hat in den letzten Jahrhunderten einige wenige Wörter aus dem Quechua und dem Spanischen aufgenommen. Die Aymara glauben, daß ihre Sprache heilig ist, eine Art Geschenk der Götter, das allen gleichermaßen gehört und das man unter keinen Umständen verändern darf. Na, was sagst du jetzt?«
»Viracocha hat ihnen ihre Sprache geschenkt?« fragte ich, noch immer argwöhnisch.
»Viracocha ...?« Proxi schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Von Viracocha ist in den Legenden der Aymara nirgends die Rede. Nicht in dem, was wir gelesen haben, oder, Jabba? Die Religion der Aymara ist eine Naturreligion: Fruchtbarkeit, Vieh, Wind, Gewitter sind ihnen heilig . Im Einklang mit der Natur zu leben bedeutet, im Einklang mit den Göttern zu leben. Von denen gibt es einen für jedes Naturphänomen, und über allen steht Pachamama, die Mutter Erde. Außerdem beteten sie, meine ich mich zu erinnern, in alter Zeit einen gewissen Thunupa an, den Gott des . des was, Jabba?«
»Des Regens und der Blitze?«
»Genau. Des Regens und der Blitze. Vielleicht haben sie ja später, unter dem Einfluß der Inka, auch an Viracocha geglaubt, keine Ahnung . Jedenfalls behaupten sie von sich, die
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