Der verlorene Ursprung
Filzstift angefertigte Zeichnung einer dreistufigen Pyramide. In ihrem Inneren wuchsen aus einer Art quadratischem Gefäß vier lange Hälse mit Katzenköpfen empor, aus den Seiten und dem Sockel sechs weitere mit Vogelköpfen, und in dem Gefäß selbst schlängelte sich eine kleine gehörnte Schlan-ge. Mein Bruder hatte >Kammer< darunter geschrieben und das Wort mehrmals dick unterstrichen.
Ein anderes Thema, das Daniel fasziniert zu haben schien, waren die Inka-Stoffe. Ich entdeckte in einem Ordner Dutzende Abbildungen von Stoffen in beeindruckenden Farben, die mit winzigen Quadraten und Rechtecken verziert waren. Jede dieser kleinen geometrischen Formen sah anders aus, und daraus ergab sich ein Gewimmel zahlloser aufgereihter und gestapelter Kästchen. Die Stoffe waren recht unterschiedlich, trotz eines vorherrschenden Stils, den ich auch auf sechs, sieben Fotos von Keramikgegenständen (Vasen und Krügen) wiedererkannte, die in einem anderen Ordner aufbewahrt waren. Auch hier gab es nicht den geringsten schriftlichen Hinweis darauf, was die Abbildungen darstellten, so daß ich nicht schlauer war als zuvor.
Aus dieser Flut nicht wirklich aussagekräftiger Informationen hoben sich zwei großformatige Fotokopien ab. Sie lagen gefaltet in einer unbeschrifteten Mappe. Es waren Reproduktionen alter, verschlissener, rätselhafter Karten. Auf der ersten konnte ich nach einiger Anstrengung rechts die Form der Iberischen Halbinsel und die Westküste Afrikas erkennen. Beide waren mit einer Vielzahl nahezu nicht unterscheidbarer Menschen- und Tierfiguren übersät, über denen sich Linien kreuzten, die von mehreren verschieden großen Windrosen ausgingen. Nachdem ich durchschaut hatte, welche Weltgegend vermutlich abgebildet war, schloß ich, daß es sich auf der linken Seite um die amerikanische Küste handeln mußte. Da waren Haupt- und Nebenflüsse, von denen viele in den Anden entsprangen, die den Rand der Zeichnung bildeten. Die Küstenlinie des Pazifiks fehlte ganz. An ihre Stelle war ein Textblock aus winzigen arabischen Buchstaben getreten. Die zweite Karte, gemalt auf eine Art Laken mit ausgefransten Rändern, zeigte einen großen See. Er war von Zeichen umgeben, die wie Ameisenspuren aussahen. Am Südufer des Sees war in groben Zügen eine Stadt eingezeichnet, unter der etwas in Altspanisch geschrieben stand, das ich mit einiger Anstrengung entziffern konnte: >Weg der Yatiri-Indianerc, und darunter: >Zwei Monate über Land< und darunter in kleinerer Schrift: >Dies bezeuge ich, Pedro Sarmiento de Gamboa, in der Stadt der Könige am zweiundzwanzigsten Februar fünfzehnhundertfünfundsiebzig.<
Endlich fügten sich erste Puzzleteile zusammen: Das Wort Yatiri kannte ich, und mein Bruder verwendete es in seinem Delirium häufig. Also, überlegte ich, mußte ich mehr über die Yatiri herausfinden. Sie schienen in der Geschichte eine zentrale Rolle zu spielen und außerdem, wie dieser spanische Edelmann Pedro Sarmiento de Gamboa bezeugte, über einen eigenen Weg zu verfügen, der nach zwei Monaten Gott weiß wo endete.
Daniels Bibliothek bestand größtenteils aus Büchern über Anthropologie und Geschichte sowie diversen Grammatiken. In den Regalen links und rechts von seinem Schreibtisch hatte er die Bände über die Inka und einen Haufen Wörterbücher deponiert, darunter zwei historische Wörterbücher der Aymara-Sprache: das 1612 vom Jesuiten Ludovico Bertonio veröffentlichte Vocabulario de la lengua aymara und Arte de la lengua aymara von Diego Torres Rubio aus dem Jahr 1616. Der Moment war gekommen herauszufinden, was zum Teufel lawt’ata bedeutete. Nachdem mich die Suche fast in den Wahnsinn getrieben hatte (da ich zugegebenermaßen keine Ahnung von der Schreibweise hatte), entdeckte ich den Ausdruck, indem ich die mit >1< beginnenden Wörter eins nach dem anderen durchging. Auf diese Weise fand ich heraus, daß es sich um ein Adjektiv handelte und >abgeschlossen< bedeutete. Da war sie wieder, die Botschaft des angeblichen Fluchs. In seiner letzten Zeile tauchte dieser Ausdruck auf. Das half mir zwar absolut nichts, aber ich hatte zumindest das Gefühl, eine der vielen Unbekannten identifiziert zu haben. Der Blick in die alten spanischen Chroniken stand mir immer noch bevor. Ich hatte dazu absolut keine Lust und daher meine gesamte Zeit auf sprachwissenschaftliche Nachforschungen zur Aymara-Sprache verwendet, wobei ich das ein oder andere Mal auch im Internet auf die Jagd nach genaueren Informationen gegangen
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