Der verlorene Ursprung
nutzlose Paßwort zum Windowsnetzwerk. Es war Teil eines völlig anderen Programms, das ich nie zuvor gesehen hatte und das, wenn man vom Design auf den Rest schließen konnte, von einem scharfsinnigen Programmierer geschrieben worden sein mußte, der aber offensichtlich nicht ich gewesen war. Ich war perplex. Weshalb brauchte mein Bruder einen solchen Schutz für seinen Computer?
Das Programm lieferte kein Indiz bezüglich Länge und Art des geforderten Paßworts, so daß ich Windows im abgesicherten Modus neu startete, um vielleicht auf diese Weise die Paßwortanforderung zu umgehen. Noch überraschter war ich, als ich erkennen mußte, daß ich weder mit diesem noch mit ähnlichen Tricks - über das BIOS - die Blockade überwinden konnte und die Tür daher so lange verschlossen bleiben würde, bis mir bessere Werkzeuge zur Verfügung standen. Es gab Tausende von Kniffen, mit denen sich diese lächerliche Sicherheitsmaßnahme überlisten ließ, aber dafür mußte ich den Laptop mit nach Hause nehmen und ihn einer Behandlung mit ein paar Basic Tools unterziehen. Um soviel Hin und Her zu vermeiden, beschloß ich, es zunächst mit schlichter Logik zu probieren, da ich felsenfest davon überzeugt war, daß es nicht schwer sein würde, das Paßwort herauszufinden. Mein Bruder war kein Hacker und mußte sich nicht auf übertriebene Weise schützen. Bestimmt hatte er sich die Software über irgendeine Informatikzeitschrift oder einen Arbeitskollegen besorgt, so daß ich im Handumdrehen hinter die Verschlüsselung kommen würde.
»Ona!« brüllte ich aus voller Kehle und drehte den Kopf. Sofort vernahm ich das glückliche Kreischen meines Neffen, der gelitten haben mußte, weil ihm der Zugang zum Büro verwehrt worden war. Sich rasch über den Gang näherndes Getrappel warnte mich vor der Gefahr. »Ona!«
»Dani, komm her!« hörte ich meine Schwägerin, die hinter meinem Neffen hergelaufen kam, um ihm den Weg abzuschneiden. »Ja, was ist, Arnau?«
»Kennst du das Paßwort zu Daniels Computer?«
»Das Paßwort?« fragte sie überrascht und erschien im Türrahmen, Dani auf dem Arm, der strampelte, um sich zu befreien und wieder auf den Boden gelassen zu werden. »Ich wußte gar nicht, daß er ihn mit einem Paßwort gesichert hat.«
Ich zog die Augenbrauen hoch und blickte wieder auf den orangefarbenen Bildschirm. »Und wie könnte es deiner Meinung nach lauten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die geringste Idee, im Ernst. Hör auf zu zappeln, Dani, bitte .! Wahrscheinlich wollte er nicht, daß jemand aus dem Fachbereich in seiner Arbeit herumschnüffelt, während er unterrichtet.« Energisch hielt sie ihrem Sohn die Hände fest, weil er ihr an den Haaren zog, um seinem Freiheitstrieb Nachdruck zu verleihen, und entfernte sich in Richtung Wohnzimmer. »Aber für dich stellt das doch kein wirkliches Hindernis dar, oder?«
Eigentlich durfte es das nicht. Statistisch gesehen basierten fast siebzig Prozent der Paßwörter auf dem Alphabet, bestanden also nur aus Buchstaben, und im allgemeinen handelte es sich dabei um Eigennamen von Personen, Orten oder Dingen. Ein solches Paßwort bestand meistens aus nicht mehr als acht Buchstaben - fast immer zwischen sechs und acht -, und Großbuchstaben wurden nur selten verwendet. Kannte man die Person, deren Paßwort man herausfinden wollte, ein wenig und versuchte es mit den Namen der Verwandten, mit Hobbys, Geburts- oder Wohnort usw., traf man früher oder später ins Schwarze. Allerdings mußte ich mir nach mehreren erfolglosen Versuchen eingestehen, daß Daniel nicht zu diesen siebzig Prozent Einfaltspinseln zählte: Keines der von mir eingegebenen Wörter knackte das Schloß. Und das, obwohl ich überzeugt war, meinen Bruder so gut zu kennen, daß nichts durchs Raster fiel.
Ich beschloß, es mit den grundlegenden Regeln numerischer Paßwörter zu versuchen. Fast alle bestanden aus sechs Ziffern, nicht etwa, weil die Leute Zahlen dieser Länge vorzogen, sondern weil sie für sie wichtige Geburtstage benutzten. Ich probierte es also mit dem Geburtstag von Daniel, dem von Ona, dem unserer Mutter, dem von Clifford, dem von Dani ... und griff schließlich genervt auf die schwachsinnigen Paßwörter zurück, die einem immer noch viel zu häufig im Netz begegnen: >123456<, >111111< und weitere Platitüden dieser Art. Aber die funktionierten genausowenig, so daß mir nichts anderes übrigblieb, als den Laptop mit nach Hause zu nehmen und meinem Bruder Respekt zu zollen,
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