Der verlorene Ursprung
wie mich!«
Sie lächelte erneut, wortlos.
Die Botschaft war angekommen. Ich schaute nach oben, um die Schädel genauer zu betrachten, und wiederholte meine Frage. Mit einem resignierten Seufzer öffnete sie eine der Schreibtischschubladen und holte ein Päckchen Zigaretten und ein Feuerzeug hervor. Auf dem Tisch hatte sie einen kleinen Aschenbecher aus Aluminiumpappe mit dem Schriftzug einer bekannten Cafehauskette, woraus ich schloß, daß sie heimlich rauchte und die entsprechenden Beweise gerne schnell verschwinden ließ. Außer dem billigen Aschenbecher lagen noch ein paar Hefter und die Papiere da, die sie bei meiner Ankunft studiert hatte. Der einzige persönliche Gegenstand war ein silberner Bilderrahmen mittlerer Größe. Das Foto darin konnte allerdings nur sie selbst sehen. Wo sie wohl ihren Computer hatte? Ein Büro ohne Computer war heutzutage nicht mehr vorstellbar, erst recht nicht das Büro einer wissenschaftlichen Autorität. Diese Frau war so seltsam wie ein Koaxialkabel an einer Trillerpfeife.
»Rauchen Sie?«
»Nein. Aber der Rauch stört mich nicht.«
»Wunderbar.«
Ich war sicher, daß es ihr ziemlich egal gewesen wäre, hätte ich das Gegenteil gesagt. Immerhin saßen wir in ihrem Büro.
»Hat Ihr Interesse an den Schädeln etwas mit dem Inhalt Ihrer Aktentasche zu tun?«
»Ja.«
Sie nickte leicht, so als ließe sie die Antwort sacken, und erklärte dann: »Also gut ... Die Schädeldeformation war eine
Sitte gewisser ethnischer Gruppen im Inkareich, mit der die höhergestellten Klassen vom Rest der Gesellschaft unterschieden wurden. Man erreichte die Deformierung dadurch, daß die Köpfe der Babys zwischen Täfelchen geklemmt und fest mit Schnüren umwickelt wurden, bis die Knochen die gewünschte Form angenommen hatten.«
»Und bei welchen ethnischen Gruppen war das üblich?«
»Oh, also eigentlich ist dieser Brauch älter als die Zivilisation der Inkas. Die ersten deformierten Schädel, von denen man weiß, haben Archäologen in Tiahuanaco in Bolivien gefunden.« Sie zögerte einen Augenblick und schaute mich zweifelnd an. »Entschuldigen Sie, ich weiß nicht, ob Sie schon von Tiahuanaco gehört haben .«
»Bis vor wenigen Tagen so gut wie nichts«, erläuterte ich und entflocht meine Beine, um sie dann andersherum wieder übereinanderzuschlagen. »Aber ich glaube, in letzter Zeit spreche und lese ich über nichts anderes mehr.«
»Das kann ich mir vorstellen ...« Sie stieß den Rauch der Zigarette durch die Nüstern, lehnte sich zurück und ließ die Hände über die Enden der Armstützen baumeln. »Also, Tiahuanaco ist die älteste Kultur Südamerikas, und ihr politischreligiöses Zentrum war die gleichnamige Stadt in der Nähe des Titicacasees, durch den heute die Grenze zwischen Bolivien und Peru verläuft.«
Den Wassern des Titicacasees war, wie ich mich erinnerte, der Inkagott Viracocha entstiegen und hatte die Menschheit erschaffen, die dann Tiahuanaco erbaut hatte. Aber es gab auch noch einen anderen See - oder war es derselbe? -, und zwar auf der Karte, die Pedro Sarmiento de Gamboa vom >Weg der Yatiri-Indianer - Zwei Monate über Land< gezeichnet hatte. Darauf würde ich später zurückkommen. Erst mal mußte ich die Sache mit den Schädeln zu Ende bringen.
»Sie sagten«, warf ich ein, damit sie den Faden wieder aufnahm, »daß die Einwohner Tiahuanacos als erste die Köpfe der Neugeborenen verformt haben, um die gesellschaftlichen Klassen voneinander zu unterscheiden.«
»Richtig. Ein solcher Brauch findet sich zwar auch in anderen Kulturen, allerdings als Nachahmung und nie in derselben Art. Die Huari haben sich zum Beispiel den Hinterkopf geplättet, und an der Ostküste des Titicacasees haben sie sich die Stirn eingedrückt, um die Schläfen hervorzuheben.«
»Huari .? Wer waren die Huari?« fragte ich.
Ich wußte, sie war drauf und dran, mich an die Luft zu setzen. Es langweilte sie und war unter ihrer Würde, Anfängerunterricht zu erteilen. Das konnte ich verstehen. Es war schließlich so, als hätte mich jemand gefragt, wie man die Fenster von Windows schließt.
»Das Huari-Reich war der große Widersacher von Tiahuanaco«, wiederholte sie in einem Ton, als hätte sie das Ganze schon tausend Mal erklärt. »Man nimmt an, daß die Geschichte Tiahuanacos um das Jahr 200 vor unserer Zeit mit ein paar primitiven Siedlungen einer Kultur begann, die Pukara genannt wird, ein Volk, über das wir fast nichts wissen. Die Annahme, daß es Tiahuanaco gegründet
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