Der verlorene Ursprung
zu sich nahm.
Endlich, kurz vor Mitternacht bolivianischer Zeit, landeten wir auf dem Flughafen El Alto in La Paz. Der Name El Alto, der Hohe, paßte gut, denn er lag immerhin über viertausend Meter hoch. Leider war es auch entsprechend kalt, so daß sich unsere Kleidung in jeder Hinsicht als geradezu lächerlich unzureichend erwies. Wir hatten Barcelona vor fast vierundzwanzig Stunden verlassen, und trotzdem war der Tag für uns derselbe geblieben, es war immer noch Mittwoch, der 5. Juni. Während des Fluges hatte man uns rechtzeitig über die Auswirkungen der Höhenkrankheit informiert und uns die Mittel genannt, mit denen man sie bekämpfen könne - es waren die gleichen, die meine Großmutter mir empfohlen hatte. Und auf der Fahrt in einem Radiotaxi zu unserem Hotel im Stadtzentrum - das ausgerechnet in der Calle Tiahuanacu lag - wurde unser Zustand tatsächlich besorgniserregend: Uns wurde schwindelig, und wir bekamen kalte Schweißausbrüche, Kopfschmerzen, Ohrensausen und Herzrasen. Glücklicherweise nahm man sich unser im Hotel sogleich mit liebenswürdigem Lächeln und verständnisvoller Miene an.
»Es kommt sofort ein Arzt zu Ihnen«, sagte die Empfangsdame. »Und der Zimmerservice wird Ihnen ein Täßchen Mate de coca bringen. Sie werden sehen, wie gut der Ihnen tut. Und wenn Sie erlauben, möchte ich Ihnen einen Rat mit auf den Weg geben: wenig essen, langsam gehen und alleine schlafen. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in La Paz.«
Anders als man hätte annehmen können, hatten die Bolivianer keinen übermäßig starken Akzent, was mich wunderte. Ich hatte etwas viel Auffälligeres erwartet. Natürlich verwendeten sie ihre eigenen Ausdrucke und Redewendungen und sprachen das spanische >c< und >z< irgendwie komisch aus, mehr wie ein >s<. Aber ihre Aussprache klang sogar weicher als das uns so vertraute Spanisch der Kanaren. Nach kurzer Zeit fiel mir der Unterschied nicht mal mehr auf, und erstaunlicherweise begannen wir, einen eigentümlichen katalanisch-bolivianischen Tonfall anzunehmen, der uns lange Zeit begleiten sollte.
Der bittere Mate de coca und die Sorochipil-Tabletten, die uns der Hotelarzt verschrieb, milderten zwar die unangenehmen Symptome, doch ich war erst nach zwei Tagen so weit wiederhergestellt, daß ich das Zimmer verlassen konnte. Mein Körper fühlte sich bleischwer an, und das Atmen war eine einzige Qual. Meine Großmutter rief mehrmals an, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen, aber ich konnte am Telefon kaum mehr als ein ersticktes Stöhnen hervorbringen. Proxi, die rasch wieder auf den Beinen war, schaute immer mal vorbei und erzählte mir, Jabba schliefe so fest, daß sie ihn nicht einmal durch Wasserspritzen ins Gesicht wach bekäme. Auf meinem Krankenlager fühlte ich mich meinem Kollegen sehr nahe. Das einzig Gute an diesen beiden Tagen war, daß wir uns an die Zeitumstellung gewöhnten, und Jabba verarbeitete die Reise.
Am Freitagnachmittag konnten wir endlich ein paar Schritte zu Fuß wagen. La Paz ist eine ruhige Stadt, in der es kaum Verbrechen gibt, abgesehen von Diebstahlsdelikten an höhenluftverwirrten Touristen. So schlenderten wir in aller Ruhe, Ausweise und Geld in diversen Innentaschen bei uns tragend, durch die Stadt und genossen die fremdartige Umgebung, die unzähligen neuen Farben und Gerüche. Hier lief das Leben langsamer - vielleicht wegen des Sauerstoffmangels, wer weiß - und vermittelte einem ein unbekanntes Gefühl der Ruhe. Am Ende fast jeder Straße hatte man einen freien Blick auf die fernen, hohen Berge mit den verschneiten Kuppen, die die Talmulde von La Paz umgaben. Im Hotel hatte man uns erzählt, die indios stellten die Bevölkerungsmehrheit dar, doch auf der Straße begegneten wir auch vielen Weißen und Mestizen, den sogenannten cholos. Wir staunten nicht schlecht, als uns klar wurde, daß die hiesigen Indios nichts anderes waren als waschechte Aymara, Nachkommen der einstigen Herren und Besitzer des Landes. Sie pflegten jene großartige Sprache, die - unfaßbar, aber wahr - allgemein als ein verachtenswürdiges Indiz für Analphabetismus und mangelnde Bildung galt.
Es fiel uns schwer, diese absurde Sicht der Dinge zu akzeptieren. Hingerissen betrachteten wir die dunkelhäutigen Straßenverkäufer mit ihrem bläulichschwarzen Haar und die Mestizinnen in ihren weiten Röcken und mit ihren Melonen auf dem Kopf, als hätten wir richtige Yatiri aus Taipikala vor uns. Ich war so begeistert, daß ich einen der Verkäufer,
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