Der verlorne Sohn
langsam wieder nieder und sagte:
»Gut! Freut mich, daß Sie Verstand annehmen! Es ist ja auch besser für Sie! Kommen wir also zur Sache!«
»Ja, kommen wir zur Sache!«
Dabei griff er zur Flasche und trank sie aus.
»Sie haben vorhin ganz recht gerathen,« sagte der Rothe. »Ihr Bruder wurde auf Veranlassung des Hauptmannes, dem dies sehr viel Geld gekostet hat, herausgelassen –«
»Wohl den Schließer bestochen?«
»Ja.«
»Ich hörte so Etwas.«
»Ihr Bruder erhielt ein rothes Maal auf die Wange. Das sollten Die sehen, bei denen er einbrach. Dadurch wurde die Annahme begründet, daß es Einen giebt, der ihm außerordentlich ähnlich sieht, der aber ein Maal auf der Wange hat. Nun aber war der Hauptmann im Stande, zu beweisen, daß Derjenige, welcher den Einbruch verübt hat, wegen dessen Ihr Bruder sich jetzt in Untersuchungshaft befunden hat, ein rothes Maal an der Wange hatte. Folglich mußte Ihr Bruder freigesprochen werden!«
»Alle Teufel!«
»Oder etwa nicht?«
»Ganz sicher! Verdammt feiner Kniff! Das kommt direct aus dem Kopfe des Hauptmannes, aus keinem anderen.«
»So ist’s allerdings in Wirklichkeit. Ihr Bruder wurde zweimal herausgelassen. Das erste Mal verdarb er es, und das zweite Mal ließ er sich gar gefangen nehmen!«
»So ein riesenhafter Dummkopf! Was aber nun? Ich glaube nicht, daß er noch zu retten ist!«
»Für jetzt gilt es nur, Zeit zu gewinnen. Und da sollen Sie auch mit helfen.«
»Wieso?«
»Ihr Bruder muß für verrückt gelten.«
»Donnerwetter! Er soll so thun, als ob er verrückt sei?«
»So ähnlich, aber nicht ganz, denn er wird in Wirklichkeit ein Wenig verrückt sein!«
»Hole Sie der Teufel!«
»Jetzt noch nicht! Der Hauptmann braucht Ihren Bruder, er will Alles für ihn thun. Nun giebt es eine Medicin, welche verrückt macht, verstanden, mein Lieber?«
»Ja, solche Mittel giebt es mehrere!«
»Sie sind entweder zu gefährlich oder nicht zuverlässig.«
»Belladonna?«
»Vielleicht. Oder wenigstens den Stoff, der sich in der Tollkirsche befindet. Man nennt ihn Atropin.«
»Den soll mein Bruder erhalten?«
»Ja.«
»Wenn er nun wirklich verrückt wird?«
»Das soll er ja!«
»Und auch verrückt bleibt?«
»Der Hauptmann wird schon sorgen, daß dies nicht geschieht!«
»Gut! Der Hauptmann versteht sich auf solche Sachen. Aber was soll der Wahnsinn meinem Bruder helfen?«
»Sehen Sie das nicht ein?«
»Jetzt noch nicht.«
»Nun, erstens wird dadurch die Untersuchung unterbrochen. Dadurch fällt Manches in Vergessenheit. Der Kranke wird scharf beobachtet, und resultirt man, daß er wirklich geisteskrank ist, so schickt man ihn in eine Irrenanstalt.«
»Die soll der Teufel holen! Ich mag nichts davon wissen!«
»Unsinn! Dort wird er nicht so streng gehalten. Er genießt Freiheiten, die es im Zuchthause nicht giebt.«
»Ah, jetzt begreife ich, dann wird er herausgeholt?«
»Ja, wenn er nicht bereits vorher freigesprochen worden ist.«
»Freigesprochen?«
»Ja.«
»Nicht möglich!«
»Warum nicht? Ist es denn nicht Wahnsinn, einzubrechen?«
»Donnerwetter! Zielen Sie dahin? Man soll annehmen, daß er bereits seit längerer Zeit wahnsinnig ist?«
»Natürlich!«
Der Riese nickte langsam und bedächtig mit dem Kopfe. Dann brachte er die sehr wichtige Frage vor:
»Aber wie soll mein Bruder zu der Medicin kommen?«
»Durch Sie.«
»Durch mich? Da verrechnen Sie sich ganz und gar! Wenn man alle Brüder mit einander sprechen läßt, uns Beide aber nicht. Ich darf auf keinen Fall zu ihm. Ich stehe ja wohl noch schwärzer angeschrieben, als er selbst!«
»Auf diesem offiziellen Wege soll es auch gar nicht geschehen. Da würden wir ihm gar nichts helfen, sondern die Sache nur verschlimmern. Nein, es soll heimlich geschehen. Sie sind doch wohl unter Anderem auch Trapez-und Seilkünstler?«
»Das versteht sich! Ich bin Alles!«
»Nun, dann sind Sie ja der Mann, den wir brauchen können!«
»In welcher Weise aber?«
»Hm, man muß eine Leiter anlegen.«
»Also von außen?«
»Ja.«
»An das Fenster seiner Zelle?«
»Natürlich.«
»Wissen Sie es?«
»Sehr genau. Ich habe mich erkundigt. Ich habe einen Bekannten, welcher der Freund des Gefängnißgeistlichen ist.«
»Schön! Es wäre verteufelt unangenehm, wenn man an ein falsches Fenster käme!«
»Natürlich! Man kann da nicht vorsichtig und sicher genug gehen.«
»Aber eine Leiter von außen? Verdammte Geschichte!«
»Das ist wahr! Der Hauptmann hatte eine Leiter construirt,
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