Der verlorne Sohn
zog sein Bruder ein frommes Gesicht, faltete die Hände und sagte:
»Laßt uns vorher beten!«
»Mache hier keine dummen Witze!« rief Seidelmann. »Das Beten ist für die armen Teufel und für die reichen Heuchler. Mir aber kommst Du nicht damit! Setze Dich und haue ein!«
Der Fromme schüttelte mißbilligend den Kopf und sagte:
»Eigentlich müßte Dir ja jeder Bissen zu Galle, Gift und Opperment werden. Du bist schlimmer als ein Heide und Götzendiener; aber Gottes Sonne geht ja auch auf über Gerechte und Ungerechte. Es sei Dir verziehen!«
Nun schwelgten Die, welche den hungernden Arbeiter um den größten Theil seines Lohnes betrogen, in Genüssen, von denen der Ärmste kaum die Namen zu nennen gewußt hätte. Kostbarer Wein wurde getrunken. Die Tafel währte, bis die Dämmerung hereinbrach. Unten standen die Arbeiter, um die Früchte ihrer Anstrengung zu bringen und den ärmlichen Lohn in Empfang zu nehmen. Sie mußten warten, bis es Fritz Seidelmann gefiel, sich ihrer zu erinnern.
Auch Eduard Hauser befand sich unter ihnen. Er hatte seine vier Stück Kleiderstoff gebracht und zählte die Sekunden. Die Seinen hatten weder Feuerung, noch Speise oder Licht.
Endlich kam der Kaufmannssohn. Er expedirte zuerst die Anderen und ließ Eduard bis zuletzt warten. Er wußte es so einzurichten, daß die Stoffe desselben neben das Stück zu liegen kamen, welches Hofmann gebracht hatte. Er vertauschte dasselbe so geschickt, daß Eduard gar nichts bemerkte, und prüfte es dann. Seine Stirn zog sich dabei in tiefe Falten.
»Was ist denn das?« sagte er. »Ich glaube gar, hier ist ein Fadenbruch!«
Eduard erschrak.
»Ein Fadenbruch?« fragte er. »So Etwas ist ja bei mir noch gar nicht vorgekommen.«
»Und doch ist einer hier, und was für einer!«
»Das ist ganz unmöglich, Herr Seidelmann!«
Der Kaufmann warf ihm einen strengen, verweisenden Blick zu und sagte in erhobenem Tone:
»Denken Sie etwa, ich habe keine Augen? Und warum sollte es so sehr unmöglich sein?«
»Weil ich die Stücke vorher ganz genau durchgesehen habe.«
»So schauen Sie her? Hier!«
Er hielt ihm den Fehler vor die Augen. Eduard nahm den Stoff in die Hand, prüfte ihn, besah sich die Arbeit und sagte dann: »Herr Seidelmann, dieses Stück ist nicht von mir!«
»Ah! Wieso? Von wem denn sonst?«
»Ich kenne meine Arbeit und auch diejenige meines Vaters!«
»Wollen Sie etwa sagen, daß Sie diese vier Stück gar nicht gebracht haben?«
»Das nicht. Aber ich weiß wirklich nicht, was ich denken soll!«
»Desto besser weiß ich, was ich von Ihnen denken soll! Wissen Sie vielleicht, welchen Werth ein solches Stück hat?«
»Wohl über dreißig Gulden!«
»Ja, sechsunddreißig Gulden. Sie haben es verdorben. Sie müssen Schadenersatz leisten. Das Stück werde ich nicht los. Es gehört Ihnen; es ist Ihr Eigenthum, und dafür bezahlen Sie mir jetzt die sechsunddreißig Gulden!«
Dem armen Weber war es, als ob er einen Keulenschlag erhalten hätte.
»O Gott, sechsunddreißig Gulden!« sagte er. »Ich habe ja nicht einmal soviel Kreuzer in meinem Vermögen!«
»Das wird sich finden. Vorerst aber will ich die drei anderen Stücke prüfen!«
Er suchte und forschte. Er fand keinen Fehler. Da nahm er den Fadenzähler, ein Vergrößerungsglas, und setzte ihn auf den Stoff, um Kette und Einschuß zu prüfen.
»Ah!« sagte er. »Das ist nicht übel! Wieviel Schuß haben Sie pro Zoll zu liefern?«
»Fünfzig.«
»Und ich zähle nur fünfundvierzig! Das ist kein Kleiderstoff, das ist ein Lappen, ein Lumpen! Wer soll solches Zeug kaufen! Durch solche Arbeiter geht der Ruf der Firma verloren. Wie steht es, können Sie die sechsunddreißig Gulden bezahlen?«
»Nein.«
»Gut, so will ich das auf mich nehmen, um nur den Ärger los zu werden. Sie erhalten aber natürlich keinen Arbeitslohn, und Arbeit erhalten Sie auch nicht wieder.«
»Herr Seidelmann!«
»Was beliebt?«
»Wollen Sie mich und meine Familie unglücklich machen?«
»Was gehen mich Sie und was geht mich Ihre Familie an! Es ist mir völlig gleichgiltig, ob Sie glücklich sind oder nicht. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Arbeiten Sie besser. Basta, abgemacht! Adieu!«
Er drehte sich um, ging hinaus und ließ Eduard stehen. Diesem war es, als ob er träume. Er konnte gar nicht an die Möglichkeit Dessen, was er gehört hatte, glauben. Es gab hier nur ein Mittel: Er mußte mit Seidelmann, dem Vater sprechen. Er begab sich also nach dessen Zimmer und klopfte
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