Der verlorne Sohn
Bunde der Brüder und Schwestern der Seligkeit beizutreten. Dieser Bund habe den Zweck, den Glauben an Gott und das Vertrauen zu ihm neu zu erwecken und zu pflegen. Die Angehörigen seien bereit, im Namen des Allgütigen und Allbarmherzigen den leidenden Brüdern und Schwestern beizustehen. Darum solle heute eine Collecte abgehalten und eine Sammelstelle hier gegründet werden. Ein Jeder solle nach seinen Kräften geben; was er gebe, gebe er Gott, und dieser vergelte Solches tausendfältig. Wer da Hilfe verlange, solle zuvor selbst beitragen, daß geholfen werden könne.
Er riß seine Hörer hin. Sie übersahen die Mängel seines Vortrages; sie erkannten nicht, daß er gekommen sei, zu empfangen, nicht aber, zu geben. Sie selbst waren bitter arm, blutarm; aber sie kannten ja das Elend, und darum fühlten sie sich tief ergriffen. Er war der Fuchs, welcher den Hühnern predigt, und er verstand seine Sache.
Am Schlusse seiner Rede nahm er das Gesangbuch wieder zur Hand und ließ die Strophen singen:
»Seiner kann ich mich getrösten,
Wenn die Noth am Allergrößten.
Er ist gegen mich, sein Kind,
Mehr als väterlich gesinnt.
Trotz den Feinden! Trotz den Drachen!
Ich kann ihre Macht verlachen.
Trotz dem schweren Kreuzesjoch!
Gott, mein Vater, lebet noch!«
Und nun griff er in die Tasche seines Talares, zog eine blecherne Büchse hervor und begann einzusammeln, zunächst bei seinen Verwandten. Man hörte die schweren Geldstücke, welche sie gaben, in die Büchse fallen. Dann kamen die Angestellten daran, und endlich ging er auch weiter, von Reihe zu Reihe.
Wer nichts einstecken hatte, konnte natürlich nichts geben oder borgte sich beim Nachbar eine Kleinigkeit; die Anderen aber steuerten Alle bei, alle! So arm sie selbst waren, sie wollten zeigen, daß sie nicht ohne Religion, ohne Glauben und Liebe seien. Viele gaben den einzigen Kreuzer hin, den sie noch besaßen. Zu Hause gab es ja noch Kartoffeln und Salz.
Selbst der Pfarrer, welcher mit anwesend und für nachher zum Souper zu Seidelmann’s geladen war, warf seine Gabe in die Büchse, obgleich er eher als die Arbeiter im Stande war, den wirklichen Sachverhalt zu durchschauen.
Schließlich erklärte der Schuster, daß er kraft seiner Machtvollkommenheit seinen Bruder, Herrn Kaufmann Seidelmann, zum Kassirer ernenne. Ihm übergab er die Büchse, und dann entfernten sich die Honoratioren so stolz, wie sie gekommen waren, während die Armen zurückblieben, um sich noch eine Weile von dem, was sie gehört hatten, zu unterhalten.
Zu Hause angekommen, öffneten die Seidelmann’s unter sich die Büchse, um das Geld zu zählen. Als sie damit fertig waren, sagte der Kaufmann:
»Sechzehn Gulden! Das ist viel! Ich hätte nicht gedacht, daß so viel Geld unter den Leuten steckt!«
»Sechzehn Gulden?« fragte sein frommer Bruder. »Wo denkst Du hin! Dreizehn sind es.«
»Wieso?«
»Nun, nicht wahr, Du hast einen Gulden gegeben?«
»Ja.«
»Ich auch und Fritz auch. Das sind drei. Wir werden aber doch nicht so dumm sein, unser schönes Geld zum Fenster hinaus zu werfen. Diese drei Gulden nehmen wir wieder!«
»Mensch! August! Du hast Recht! Heraus also mit dem Gelde! Was aber wird mit dem anderen?«
»Was soll da werden? Bruder, bist Du wirklich so dumm?«
»Dumm? Wieso? Als Kassirer habe ich Buch zu führen und Rechnung abzulegen!«
»Davon entbinde ich Dich! Zunächst haben wir unsere Auslagen zu berechnen. Hast Du denn Dein Pianoforte umsonst hergeborgt?«
»Nicht umsonst?«
»Das darf Dir nicht einfallen! Wenn ein Verein sich zum Beispiel ein Instrument zu einem Concerte oder einer Aufführung borgt, muß er Leihgebühren zahlen.«
»Ich wäre doch der größte Thor, wenn ich auf Deine Noblesse nicht eingehen wollte! Wieviel willst Du geben?«
»Es kommt darauf an, wieviel Du haben willst.«
»Sind zwei Gulden zu viel?«
»Nein. Nimm drei! Hier sind sie!«
»Da bleiben also zehn. Welcher Arme bekommt sie?«
»An Eure Armen können wir noch lange nicht denken! Oder meinst Du, daß ich nicht auch Auslagen gehabt habe? Acht Gulden kostet mich die Eisenbahn und der Schlitten. Die übrigen zwei Gulden reichen gar nicht, wenn ich berechne, was ich unterwegs verzehrt habe, Grog, Warmbier, Kaffee, Cognac, zwei Rumpfsteaks mit Schmorkartoffeln und eine Tasse Cacao. Nein, diese zehn Gulden belege ich mit Beschlag, und gleiche damit meine Forderung aus; sonach bleibst Du als Cassirer noch immer in meiner Schuld.«
Er steckte die zehn Gulden ein
Weitere Kostenlose Bücher