Der verlorne Sohn
betteln gehen!«
»Aber bedenken Sie, daß Sie uns singen ließen:
›Sollt es gleich bisweilen scheinen
Als verließe Gott die Seinen,
Ei, so weiß und glaub ich dies:
Gott hilft endlich doch gewiß!‹«
»Das ist wahr; aber wir haben doch auch gesungen:
›So hält Gott doch Maaß und Ziel:
Er giebt, wem und wenn er will!‹«
»So meinen Sie, daß ich von ihm nichts bekommen solle?«
»Das nicht. Aber denke Sie an das Wort, welches der Heiland bei der Hochzeit zu Kana sagt: Weib, meine Stunde ist noch nicht gekommen!«
»O, die brauchte auch nicht gekommen zu sein, denn als er das sagte, hatten alle Gäste noch genug Essen und Wein.«
»Ich sehe, daß Sie sehr bibelfest ist, und das freut mich. Aber gerade darum kann ich Ihr kein Brod geben. Gott will helfen und wird helfen; ich darf ihm ja nicht vorgreifen. Gehe Sie nur nach Hause in Ihr Kämmerlein; kniee Sie nieder und bete Sie zu Ihrem Vater im Verborgenen, recht gläubig, recht innig und vertrauend! Es steht in der Bibel, daß das Gebet des Gerechten Berge zu versetzen vermöge. Bete Sie also, anstatt zu betteln, und ich bin überzeugt, daß er Ihr helfen wird.«
»Aber wie soll er mir denn helfen? Doch durch Menschen. Gott kommt nicht mehr auf die Erde herab!«
»Warum nicht? Er kommt auch heute noch. Ich kann, ich darf Ihr nichts geben; ich darf Gott die Freude nicht verderben. Bete Sie, und dann wird er selbst kommen und Ihr helfen, oder er wird Ihr einen seiner Engel senden!«
Da ging ein eigenthümliches Zucken über ihr erfrorenes, blindheitsstarres Gesicht. Sie biß die Zähne zusammen und krümmte die Finger, als ob sie eine Faust machen wolle.
»Gott, mein Gott!« sagte sie. »Hier duftet es nach Braten und Speck, nach Wein und Delicatessen, und ich soll hungrig fortgehen! Denken Sie daran, Herr Pastor, daß wir heute auch gesungen haben:
›Trotz den Feinden! Trotz den Drachen!
Ich kann ihre Macht verlachen!
Trotz dem schweren Kreuzesjoch!
Gott, mein Vater, lebet noch!‹«
»Was will Sie damit sagen?« fragte er.
»Daß ich Sie für einen Engel gehalten habe, den uns Gott sendet. So dachte ich, als ich Ihre Worte hörte. Nun ich aber Ihre Thaten sehe, erkenne ich, daß ich mich geirrt habe. Ich bin eine arme, schwache und blinde Frau; ich habe im Stillen hilflos gehungert und gedürstet, geklagt und geweint; ich habe mich über Niemand beschwert. Heute aber muß es heraus, und wenn ich daran sterben und untergehen soll!«
»Ah, Sie will sich beschweren? Ueber wen denn?«
»Ueber die Wölfe, die in Schafskleidern zu uns kommen. Es giebt einen guten Gott, der helfen will, aber seine und unsere größten Feinde sind Die, welche seine Worte im Munde führen, aber im Herzen wie die Teufel denken. Das sind die Feinde und die Drachen, von denen wir gesungen haben!«
»Was! Sie raisonnirt!« rief er zornig.
»Ja,« antwortete sie. »Ein solcher Feind, ein solcher Drache sind auch Sie! Aber Gott, mein Vater, lebet noch! Er wird einen Boten senden, der Sie zertritt, wie der Erzengel den Teufel, wie der heilige Georg den Drachen! Das ist es, was ich sagen will. Und nun will ich gehen und weiter hungern!«
Die Worte brachten eine allgemeine Aufregung hervor.
»Welche Unverschämtheit! Freches Weib!« ertönte es rund um den Tisch herum.
»Werft sie hinaus!« gebot der fromme Schuster, indem er seine Hand gegen sie ausstreckte, wie der alttestamentliche Richter über die dem Verderben geweihte Feindesstadt.
Da aber erhob sich der Pfarrer von seinem Stuhle, ergriff die Frau beim Arme und sagte:
»Warten Sie, liebe Frau Löffler! Wer Sie in dieser Weise fortjagt, der treibt auch mich von dannen!«
Er griff nach seinem Hute.
»Was! Sie wollen doch nicht etwa gehen?« fragte Seidelmann.
»Allerdings!«
»Wegen dieses Weibes?«
»Ja. Ich habe Ihnen nämlich zu sagen, meine Herren, daß ihr bereits geholfen ist. Ich werde sie nach meiner Wohnung führen. Ich bin zwar nicht ein Vorsteher der Brüder und Schwestern der Seligkeit; ich bin nur ein arm besoldeter Pfarrer, aber ein Stückchen Brod und ein Schälchen warmen Kaffee habe ich für diese Hungernde doch übrig.«
»Sie greifen Gott vor!« rief der Schuster.
»Ich hoffe, daß er es mir vergeben wird. Uebrigens widersprechen Sie sich ja selbst. Sie haben heute für die Nothleidenden eingesammelt. Darf ich vielleicht fragen, wie viel diese Sammlung ergeben hat?«
»Wir sind Ihnen keine Rechenschaft schuldig. Sie sind weder ein Mitglied unserer
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