Der verlorne Sohn
Gaststube gab es so viele Leute, daß sein Eintritt gar nicht beachtet wurde. Da waren Diejenigen anwesend, deren Mittel es erlaubten, vor Beginn des Vortrages ein Glas Bier zu trinken.
Er stieg zum Saale empor. Dort warteten bereits die ganz Armen der Ankunft Seidelmann’s. Da gab es Gesichter, in denen der Hunger, die Kälte, die Sorge, das Elend zu lesen waren, junge und alte Leute, Burschen, welche in Folge der ungesunden Schachtarbeit ein Jahrzehnt älter zu sein schienen, als sie wirklich waren; Mädchen und Frauen, deren einziges, ärmliches Gewand ihre Sonn-und Werktagskleidung war, Männer, welche trotz ihrer vierzig Jahre bereits in gebückter Haltung auf den Bänken saßen, und weißhaarige Greise, bei deren Anblicke man sich gewundert hätte, daß sie so hoch betagt hatten werden können, wenn man nicht gewußt hätte, daß sie ihrem Alter nach eigentlich noch gar nicht Greise genannt werden konnten.
Es war ein Podium errichtet, auf welchem ein Clavier stand. Auf dem letzteren lag eine Bibel und ein Gesangbuch, und zu beiden Seiten waren sammetgepolsterte Sessel gestellt, für wen, das wußte jetzt noch Niemand zu sagen.
Ein leises Flüstern ging durch den Saal. Der Vortrag sollte, wie man sich mittheilte, eine Art Gottesdienst sein. Es war in Folge dessen diesen guten Leuten zu Muthe, als ob sie sich in der Kirche befänden; darum wagten sie nicht, ihre Unterhaltung in lauten Worten zu führen.
Auch hier wurde Arndt gar nicht beachtet. Er schlüpfte in eine Ecke, in welcher er sich niederließ.
Kaum war das geschehen, so kam ein Zug von wohl über einem Dutzend Personen zur Thüre herein geschritten, voran der fromme Schuster. Er trug eine Art Priestertalar und eine Kopfbedeckung, welche dem Barette lutherischer Pfarrer ähnlich geformt war.
Ihm folgten die Inhaber des Geschäftes Seidelmann und Sohn nebst ihren Angestellten und dann die Beamten des freiherrlichen Kohlenwerkes »Gottes Segen«. Sie grüßten nicht. Sie schritten in stolzer Haltung auf das Podium zu und nahmen dort auf den Sammetsesseln Platz. Der Schuster trat hinter das Clavier, faltete die Hände und hob die Augen andächtig empor. Er flehte natürlich um den Segen Gottes zu dem frommen Werke, welches zu beginnen er im Begriffe stand. Sodann begrüßte er die Versammelten mit den bekannten Worten:
»Gnade sei mit Euch und Friede von Gott dem Vater und unserem Herrn Jesum Christum!«
Es sind dies die Worte, mit denen lutherische Kanzelredner ihre Predigten zu beginnen pflegen. Er sprach dabei, wie so manche dieser Geistlichen, den Namen des Heilandes nicht Jesu Christo, sondern falsch, im Accusativ, aus. Sodann begann er das Werk, indem er das Gesangbuch aufschlug und die Anwesenden darauf aufmerksam machte, daß ein Trostlied gesungen werden solle, da er gekommen sei, ihnen in ihrer Noth und ihrem Elende die einzig wahre Hilfe und Rettung zu bringen. Er las die Verse einzeln vor; Fritz Seidelmann, sein Neffe, welcher gelernt hatte, ein halbes Dutzend Noten auf dem Clavier zu spielen, setzte sich an das Instrument und gab den Ton an. Erst ließen sich nur einzelne Stimmen hören; bald aber fielen mehrere ein, und endlich erklang es laut und kräftig wie in der Kirche:
»Sollt es gleich bisweilen scheinen,
Als verließe Gott die Seinen,
O, so weiß und glaub ich dies:
Gott hilft endlich doch gewiß!
Hilfe, die er aufgeschoben,
Hat er doch nicht aufgehoben.
Hilft er nicht zu jeder Frist,
Hilft er doch, wenn’s nöthig ist.
Gleich wie Väter nicht bald geben,
Wonach ihre Kinder streben,
So hält Gott auch Maaß und Ziel;
Er giebt, wem und wenn er will!«
Nach diesen Strophen begann der Vortrag über das Thema: Gott ist der Helfer in jeder Noth und Gefahr. Er zerfiel in die beiden Theile: Herr, hilf uns; wir verderben! und: O, Ihr Kleingläubigen, warum zweifelt Ihr?
Die Zuhörer mußten sich gestehen, daß der einstige Schuster im Besitze eines wirklichen Rednertalentes sei. Er stellte sich keineswegs außerhalb der christlichen Kirche; nein, dazu war er viel zu klug. Er kannte die Leute, zu denen er sprach; er kannte auch ihre Verhältnisse, ihre Nothlage, ihr Elend. Er kannte jedenfalls ebenso gut auch die wirklichen Gründe desselben. Er schilderte es ihnen mit beredten Worten in seiner ganzen nackten, erschreckenden Wirklichkeit, aber er hütete sich wohl, diese Gründe zu erwähnen. Er sprach von dem immer mehr überhand nehmenden Unglauben, von dem Mangel an Liebesthätigkeit. Er forderte sie auf, dem
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