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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Armenhausbewohnerin, von welcher der Förster heute gesprochen hatte.
    »Was! Die alte Löffler!« rief der Kaufmann. »Was will denn Sie bei uns?«
    »O, nehmen Sie es nicht übel!« sagte die Frau, indem ihr die zahnlosen Kinnladen vor Frost zusammenschlugen. »Ich suche den Herrn Pastor Seidelmann.«
    Der Schuster fühlte sich außerordentlich geschmeichelt darüber, daß sie ihn Pastor nannte. Er stand von seinem Stuhle auf und fragte:
    »Ich bin es. Was will Sie, liebe Frau?«
    »Ich war heute in der Schänke. Ich habe mich von einem Jungen hinführen lassen. Ich wollte –«
    »Was? In der Schänke war Sie?« fragte er rasch.
    »Ja, Herr Pastor.«
    »Ist Sie nicht eine Bewohnerin des Armenhauses?«
    »Ja, schon seit langer Zeit.«
    »Und da geht Sie des Abends in die Schänke? Ich denke, jeder Armenhäusler muß zur gewissen Zeit zu Hause sein!«
    »Das wird bei uns nicht so genau genommen, weil wir nach dem lieben Brode gehen müssen. Auch habe ich den Armenhausvater heute um Erlaubniß befragt.«
    »Und er hat es Ihr bewilligt?«
    »Ja, Herr Pastor.«
    »Das ist stark! Der Vorsteher bewilligt Ihr, in die Schänke kneipen zu gehen, wohl gar Schnaps zu trinken?«
    »O nein, nein! Das nicht! Ihre Rede wollte ich hören!«
    »Ah! Das ist etwas Anderes! Nun, was will Sie denn jetzt und hier?«
    Die Alte sann einige Augenblicke nach, um die rechten Worte zu finden und antwortete dann:
    »Nun, Herr Pastor, ich hörte, daß Sie von der Noth und dem Elende sprechen wollten und von der Hilfe, welche es dagegen giebt. Noth und Jammer giebt es hier überall, aber zu den Elendsten gehöre doch ich.«
    »Ja, Sie ist schlimm daran! Blind zu sein ist eine schwere Heimsuchung. Bete Sie mir recht fleißig zu Gott! Er hat den Tobias mit Hilfe einer Walfischleber sehend gemacht. Vielleicht läßt er auch Ihr ein Mittel zur Heilung finden.«
    Der mit anwesende Pastor räusperte sich laut. Er war ein bescheidener, stiller Diener seines Gottes, nicht ein schneidiger, wehrhafter Petrus; aber was er hier hörte, war ihm doch zuviel.
    Die Alte sagte in klagendem Tone:
    »Ach, Hilfe giebt es für mich keine. Ich bin am Bergwerke bei einer Explosion verunglückt. Mir fehlen ja die Augäpfel; man hat sie mir herausgeschnitten. Hätte ich da nicht von dem Herrn Baron eine Unterstützung zu verlangen, Herr Pastor?«
    »Nein. Er hat Ihr den Arbeitslohn pünktlich bezahlt, so lange Sie thätig war. Wenn Sie nicht mehr arbeitet, so hat Sie auch nichts mehr zu verlangen.«
    »Aber Sie sind doch sein Stellvertreter! Könnten Sie nicht ein gutes Wort für mich einlegen?«
    »Das geht nicht. Ich bin nicht sein vortragender Rath.«
    »Ich verstehe nicht, wie das gemeint ist, Herr Pastor; aber seit jenem Unglücke führe ich das elendeste Leben, welches es nur geben kann. Die Anderen können hinaus auf die Dörfer, wo es eher ein Stückchen Brod giebt als hier. Ich aber taste mich im Orte von Haus zu Haus, wo lauter arme Leute wohnen. Ich weiß, wie der Hunger thut; ich weiß aber seit langer Zeit nicht mehr, wie es ist, wenn man satt ist. Ich friere bis in die Seele hinein. Heute haben Sie eine so schöne Rede gehalten, so schön und so rührend –«
    »Ah, hat sie Ihr gefallen?«
    »O, sehr, sehr! Sie sprachen vom Wohlthun und vom Mittheilen. Mich hungerte so sehr. Da dachte ich: Du gehst nachher zu ihm. Da giebt es feines Abendessen, Braten und Wein. Wer so schön vom Wohlthun reden kann, der hat sicherlich ein gutes Herz; der wird Dich nicht hungern lassen!«
    Er zog die Stirn in Falten und fragte:
    »So kommt Sie also betteln?«
    »Ein Stück Brod will ich gern haben, nur ein kleines Stückchen Brod, keinen Braten und keinen Wein.«
    Da machte er ein pfiffig strenges Gesicht und sagte:
    »Da wird Ihr Gang wohl umsonst gewesen sein! Schäme Sie sich! In Gegenwart dieser Herrschaften zu betteln!«
    Sie griff zu der alten, zerrissenen Schürze, als ob sie weinen und sich die Thränen trocknen wolle, ließ sie aber sofort wieder fallen.
    »Herr Pastor,« sagte sie, »ich darf nicht weinen, denn die Thränen können bei mir nicht heraus, das verursacht mir große Schmerzen; das brennt wie höllisches Feuer. Heute, als Sie so schön sprachen, hätte ich dennoch bald geweint, geweint vor Freude, daß es einen solchen Mann giebt, der vom lieben Gott die Gabe und den Auftrag hat, unsere Noth zu stillen. Geben Sie mir ein Stückchen Brod!«
    »Wenn alle Bettler gerade zu mir kommen wollten, weil ich das Wort der Liebe predige, müßte ich bald selbst

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