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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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und sagte dabei unter einem sehr frommen Aufschlage seiner Augen:
    »So! Gott giebt!«
    Und lachend fügte er hinzu:
    »Aber nur Denen, welche zu nehmen wissen! Ist Euch der Bibelspruch bekannt: Bittet, so wird Euch gegeben; suchet, so werdet Ihr finden; klopfet an, so wird Euch aufgethan! Doch genug hiervon! Habt Ihr heute schon an der Eiche nachgesehen?«
    »Nein.«
    »Das wird bald Zeit. Wie ist’s, lieber Fritz? Willst Du nicht vor dem Souper gehen?«
    »Habe keine Lust! Es wird wohl noch Zeit sein, wenn die Anderen fort sind.«
    »Zeit wäre es wohl, aber bei den guten Weinen, die Ihr bereit gestellt habt, möchte es Dir dann nach dem Abendessen zu sehr in den Gliedern liegen.«
    »Ganz das Gegentheil. Recht warm und behaglich werde ich jedenfalls sein. Es ist schauderhaft kalt da draußen!«
    »Aber jetzt sitzen die Leute noch in der Schänke, und unsere Gäste werden sogleich kommen; da bist Du am Sichersten, daß Niemand draußen ist, Dich zu belauschen.«
    Und als sein Neffe noch immer keine rechte Lust zeigte, fügte er hinzu:
    »Weißt Du, welchen Werth die nächste Sendung haben wird?«
    »Wie sollte ich das wissen! Der Waldkönig theilt das ja nie Jemandem mit.«
    »Aber mir doch. Es stehen zwanzigtausend Gulden auf dem Spiele.«
    »Zwanzigtau – ah, sapperment! Zehn Procent davon sind unser! Für zweitausend Gulden kann man sich schon einmal hinaus in die Kälte wagen. Ich gehe.«
    Er begab sich nach seiner Stube, wo er lange Stiefel, kurze Jacke und eine schwarze Maske anlegte. Nach einigen Minuten schlich er sich, ohne von Jemand gesehen zu werden, durch den Garten in’s Freie.
    Jetzt kamen die geladenen Gäste: der Pastor, der Bürgermeister und noch Andere. Die Tafel war sehr reich besetzt. Auch der Knappschafts-und Armenarzt war anwesend. Er hatte seinen Platz neben dem frommen Schuster. Eigentlich war er nicht geladen; aber er war zu einer Kranken gerufen worden und dann zufälliger Weise zu Seidelmann’s gekommen.
    »Was fehlt der Frau?« fragte der Fromme.
    »Pah! Was soll ihr fehlen? Die Auszehrung hat sie, wie hier fast alle Leute!«
    »Giebt es keine Rettung?«
    »Meinen Sie etwa, daß ich so eine Kohlenschauflerin nach Nizza, Kairo oder Madeira schicken kann?«
    »Das ist richtig! Aber, mein Lieber, Sie haben voriges Jahr der Knappschaftskrankenkasse bedeutende Ausgaben verursacht.«
    »Meinen Sie etwa die vierhundert Gulden Gehalt, welche ich bekomme?«
    »Nein; das ist Fixum; darüber giebt es nichts zu sprechen, obgleich Sie diese Summe nur so nebenbei verdienen. Aber es sind einundzwanzig Gulden für den Apotheker verausgabt worden. Denken Sie, einundzwanzig Gulden in einem einzigen Jahre! Das ist stark!«
    Da beugte sich der Arzt noch näher zu ihm hin, so daß Niemand hören konnte, was sie sprachen, und fragte:
    »Wissen Sie, für wie viele Kranke diese Summe verausgabt worden ist?«
    »Ich habe nach Gulden zu rechnen, nicht aber nach Kranken. Ich bin der Bevollmächtigte des Barons, dessen Interessen ich zu wahren und zu vertreten habe.«
    »Nun wohl! Diese einundzwanzig Gulden sind für zweihundert und dreizehn Krankheitsfälle verausgabt worden. Da haben also im Durchschnitte mehr als zehn Kranke nur für einen Gulden Medicamente, Stärkungsmittel und so weiter erhalten. Das darf ich keinem Menschen sagen!«
    »Das fehlte noch! Sie sind Diener des Barons. Uebrigens haben Sie statistisch nachgewiesen, daß es nur leichte Erkrankungen gewesen –«
    »O, o!« fiel ihm der Arzt in die Rede. »Soll ich etwa wissen lassen, daß gerade mein Bezirk der elendeste des ganzen Landes ist?«
    In diesem Augenblicke brachte der Hausherr einen Toast auf das Bestehen der Gesellschaft der Brüder und Schwestern der Seligkeit aus. Die Hochs erklangen, und die Gläser klirrten; der Wein floß in die durstigen Kehlen. Niemand bemerkte in diesem Augenblicke die Frau, welche leise eingetreten war und, sich mit den beiden Händen am Thürpfosten haltend, vorn am Eingange stand.
    Es war eine Greisin, wenigstens hatte sie ganz das Aussehen einer solchen. Ihre Augen fehlten; die Lider waren tief eingesunken, denn es waren keine Augapfel mehr vorhanden. Ihr Haar war vom Winde zerzaust, und ihre Kleidung bestand aus dünnen Fetzen, welche nicht im Stande waren, die Kälte von dem armseligen Leibe abzuhalten. Sie zitterte vor Frost an allen Gliedern.
    Jetzt war der Toast beendet. Die Tafelgäste, welche sich erhoben hatten, setzten sich wieder nieder, und nun wurde auch die Alte bemerkt. Es war dieselbe

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