Der Vermesser (German Edition)
stand es tief genug. So schnell es seine gefrorenen Finger erlaubten, streifte er sich den Mantel wieder ab und holte aus dem Bündel das Taschentuch des Mannes, um es ihm in die Brusttasche zu stecken, fest genug, dass es nicht herausfiel, aber doch so, dass die Enden mit den Initialen, wie bei einem geschniegelten Stutzer üblich, zu sehen waren. Dann zog er dem Toten den Mantel über. Da sich seine Arme nicht biegen ließen, zerrte er ungeduldig an ihnen, bis krachend ein Knochen brach. Der Mantel würde seinen Zweck erfüllen, auch wenn er nicht der Kleidung eines feinen Herrn entsprach. Tom hätte natürlich den Mantel des Mannes nehmen können – er hatte ihn aufgehoben –, doch er war ihm zu schade. Es wäre Verschwendung gewesen, ihn dem Toten zu überlassen, dem diese feine Qualität nun nichts mehr nützte. Der Mantel würde nur vermodern, wenn man die Leiche begrub. Als der Tote so weit wieder eingekleidet war, zog Tom ihn vorsichtig bis zum Bug der Kähne. Das war der riskanteste Teil. Denn der Kopf musste weit genug herausragen, dass die Leiche entdeckt würde, bevor die Flut wieder einsetzte, aber zugleich wollte Tom vermeiden, dass man sie fand, bevor er in sicherer Entfernung war. Er atmete tief ein und schob die Leiche unter das Kettenknäuel an dem wackligen Steg. Dann schlich er sich, so schnell er konnte, davon, indem er die Kähne und die Ufermauer als Deckung nutzte und sich so dünn machte, dass er fast unsichtbar blieb.
Ein paar hundert Meter flussabwärts kletterte er die Ufertreppe hoch. Da er fürchtete, sich in den nassen Kleidern zu Tode zu frieren, steuerte er schnurstracks ein Kaffeehaus an, wo er sich, vor einem zischenden Feuer sitzend, trocknen ließ, die Hände um einen heißen Becher Tee mit Brandy geschlungen. Der Dampf, der von ihm aufstieg, verpestete den engen Raum mit dem Verwesungsgestank der Themse. Kurz darauf machte er sich auf den Weg und schlenderte den Fluss entlang nach Osten. Am Ufer hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die Leute deuteten alle in eine Richtung. Tom spähte hinüber. Zwei Themsefischer hatten ihr klappriges Boot am Steg vertäut und waren gerade dabei, unter den Ankerketten der Kähne etwas hervorzuziehen.
»O gütiger Himmel!«, kreischte eine Frau entsetzt und reckte den Hals, um besser sehen zu können. »Bestimmt eine Leiche.«
»Unglaublich«, erwiderte Tom und schüttelte erstaunt den Kopf. »Unglaublich.«
Er wartete nicht, um zu sehen, in welche Richtung die Themsefischer ablegten. An den meisten Anlegestellen am Südufer würden sie dafür ein paar Shilling bekommen. Eigentlich sein Geld, dachte Tom, als er langsam weiterschlenderte, aber gleichzeitig grinste er.
XXII
A ndere im Schlafsaal verweigerten die Einnahme der Medikamente, die Vickery ihnen zweimal täglich verabreichte, indem sie taten, als würden sie sie schlucken, um sie später wieder auszuspucken, oder indem sie den Mund fest zusammenpressten. Nicht so William. Die Medizin verursachte ihm Übelkeit und verwirrte ihn, er bekam einen trockenen Mund, und es fühlte sich an, als wären seine Schläfen in einen Schraubstock eingeklemmt. Lähmende Angst legte sich auf ihn wie ein öliger Film, raubte ihm den Atem und ließ seine Lider zucken. Aber die Medikamente bewirkten auch, dass sein Bewusstsein mit einer klebrigen Schicht umhüllt wurde, so dass er sich selbst verborgen blieb. Wenn die Wirkung des Chloral einsetzte, schien ihm der Wahnsinn näher, realer. Zweimal täglich zog ihn das starke Beruhigungsmittel in die Dunkelheit hinab, trennte ihn von Zeit und Raum und höhlte ihn innerlich aus, so dass der Wahnsinn in seine geheimsten Winkel dringen und dort Fuß fassen konnte. Wenn im kalten Grau einer neuen Morgendämmerung die Außenwelt mit ihrem Streben und Trachten in seinen erschöpften Schädel zu sickern drohte und ihr schwaches Licht auf seine Hirnrinde warf, schloss das Chloral die Fensterläden, so dass nichts eindringen konnte. Den anderen Männern auf der Station schenkte William keine Beachtung, und er sprach mit niemandem. Nur wenn man ihn zum Abort brachte oder in den Speisesaal zu den kargen Mahlzeiten, erhob er sich aus seinem Bett. Er aß wenig und zerkrümelte das grobkörnige Brot zwischen den Fingern. Auch seine Gedanken zerkrümelten, wenn er in ihnen herumstöberte. Er ließ sie fallen, und es lag eine verzweifelte Befriedigung darin, nicht mehr dagegen ankämpfen zu müssen. Da er über nichts nachzudenken hatte und ihm auch die Anreize
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