Der Vermesser (German Edition)
verabreichte er William eine schallende Ohrfeige, bevor er ihm den Löffel zwischen die Lippen rammte. William schluckte und schloss die Augen, presste die Hände gegen die würgende Kälte in seinem Bauch. Dann wartete er, dass die Dunkelheit ihn hinabzog.
XXI
E s dauerte fast eine Stunde, bis sie die Leiche aus dem Mauerspalt freibekamen, wo sie eingeklemmt war. Die aufgedunsenen Schultern und Hüften hatten sich in den Backstein gedrückt, und die Haut war dunkellila verfärbt, als hätte sie die unterirdische Dunkelheit aufgesogen. Natürlich hatten sich auch schon die Ratten über den Kadaver hergemacht und Beine und Finger und alle auch nur irgendwie für sie erreichbaren Stellen angenagt. Aber das Salz und die Kälte hatten verhindert, dass die Verwesung rasch voranschritt, und so stank die Leiche mehr nach Schlamm und Tang als nach sonst was.
Nachdem sie den Toten schließlich freibekommen hatten, nutzten sie den Gezeitenstand und ließen ihn einen guten Teil der Strecke bis zur Schleuse von der Strömung tragen; wenn er sich in einer Spalte im Mauerwerk verfing, brauchten sie nur einen der leichenstarren Füße anzustupsen. Bei der Treppe in Temple schickte Tom zuerst Joe nach oben, um sich zu vergewissern, ob die Luft rein war, während er selbst die Gerätschaften aus dem wasserdichten Bündel auf seinem Rücken auspackte. Es war kurz vor fünf Uhr morgens, und obschon die Dämmerung noch auf sich warten ließ, herrschte auf dem Fluss bereits emsige Geschäftigkeit. Für die Dampfboote war es noch zu früh, aber die mit Heu beladenen Kähne und die Boote, auf denen die Gärtner vom Oberlauf der Themse ihre Erzeugnisse zu den Vormittagsmärkten brachten, waren bereits unterwegs. Toms Erfahrung nach würden die Leute, die zu so früher Stunde schon auf den Beinen waren, sie nicht weiter beachten. Außerdem hatten sie das Glück, dass Neumond war und schwere Wolken über der Stadt hingen. Tom duckte sich, so gut es ging, in den tiefen Schatten entlang der Ufermauer und ließ die Leiche an seiner Hand im Flusswasser driften.
Sie dümpelte bäuchlings im Wasser, die Hände mit den angenagten Fingern wie sanft paddelnd. Tom hielt sie am Fußgelenk fest. Den Kopf tief über die dunklen Fluten gebeugt, zog er die Leiche langsam flussabwärts zu einer Stelle, wo mehrere ausgemusterte Holzkähne vertäut lagen. Gelegentlich wurden sie als Schlafplatz benutzt, aber es waren nur noch Wracks, deren verfaulte Rümpfe bei Ebbe nach und nach im Schlamm auseinander brachen. Tom konnte nicht besonders gut schwimmen, aber er kämpfte sich voran, indem er sich halb im Wasser watend an den alten geteerten Fendern entlangzog, mit denen die dunklen Flanken der Kähne bestückt waren, bis er zu einer Stelle kam, wo die Ankerketten zu einem klobigen eisernen Knoten zusammenliefen und sich ein altersschwacher Landungssteg mit wackligen Beinen mühsam gegen die Strömung behauptete. Die voll gesogene Leiche war schwer und unbeweglich. Tom schlang die Arme um die aufgequollenen Oberschenkel, um sie besser ziehen zu können. Schwerfällig trieb sie hinter ihm her und hinterließ dabei eine flüchtige V-förmige Spur im eisig kalten Wasser. Tom zitterte. Wenn er zu lange drinblieb, würde es ihm ergehen wie dem da. Er schob die Leiche in den engen Spalt zwischen den Kähnen. Hier würde man ihn nicht sehen, weder vom Ufer noch vom Fluss aus. Der Streifen Himmel zwischen den hohen Flanken der Boote war inzwischen grau geworden und ließ die Morgendämmerung erahnen. Tom verkeilte die Leiche, so gut es ging, und wartete.
Je heller es wurde, desto emsiger und lauter wurde das Treiben. Themsefähren pflügten tutend durchs Wasser. Am Ufer ratterten Karren und Kutschen über das Kopfsteinpflaster. Tom lehnte sich gegen den morschen Kahn und wartete darauf, dass der Pegel endlich sank. Und langsam, so langsam, dass Tom fast meinte, der Fluss würde sich mit aller Kraft gegen die Naturgesetze stemmen, ging das Wasser zurück. Als es ihm nur mehr bis zu den Knien stand, nahm er aus dem Ölzeugbündel, das er sich auf den Rücken gebunden hatte, einen alten Mantel, schlüpfte hinein und rieb sich die vor Kälte steifen Arme warm. Und wartete weiter. Je mehr das Wasser zurückwich, desto mehr veränderte sich auch der Himmelsausschnitt. Die Kähne sanken immer tiefer in den Schlick und stießen mit den Rumpfkanten über ihm aneinander. Tom kauerte sich noch tiefer und wartete, dass das Wasser nur mehr Pfützen im Schlamm bildete. Endlich
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