Der Vermesser (German Edition)
ihm wie Geifer das Kinn hinunterrann. Das Erbrochene verklebte ihm Haar und Backenbart und durchtränkte seine Laken. Auf dem Boden bildete sich eine Lache. William rief nach Wasser, leise zuerst, dann drängender. Im Bett neben ihm wachte der weißhaarige Mann auf, begann zu wimmern und schlug mit dem Kopf immer und immer wieder an die Eisenstäbe seines Bettgestells. Als Vickery mit zerzausten Haaren in den Schlafsaal stürmte, waren bereits drei oder vier der Männer wach und in heller Aufregung; sie fluchten, weinten oder hämmerten mit Fäusten an die Wand.
»Ruhe!«
Vickerys donnernde Stimme ließ das Gitter vor dem Fenster erzittern, und für einen Augenblick herrschte Stille im Raum. Als das Murren und Heulen wieder anhob, klang es zögerlicher, gedämpft von Angst. Mit seinem massigen Körper bewegte sich Vickery schwerfällig durch die schmalen Gänge zwischen den Betten, tastete nach den Handgelenken der Männer und zog die Baumwollgurte fester. Schließlich war William an der Reihe, doch statt an seinen Handgelenken packte er ihn am Schopf, um sich sein Gesicht im Schein der Kerze zu besehen. William spürte, wie ihm die Flamme die Wange versengte, und versuchte zurückzuweichen, aber Vickery packte nur noch fester zu und hielt die Kerze noch näher. Der Atem des Wärters stank schal nach Whisky und Schlaf. Ungläubig starrte William in das dunkle Herz der Flamme, dann schloss er die Augen, und als die Hitze auf seiner Haut unerträglich wurde, schrie er auf. Fluchend stieß Vickery ihn zurück, so dass William mit dem Kopf an die Stäbe seines Bettgestells schlug. Er sank auf seine Matratze, und die Dunkelheit schwappte über ihm zusammen; doch bevor sie ihn verschlingen konnte, wurde er herausgezerrt und zu Boden geworfen. Ein keuchender Laut entrang sich ihm, als ihm ein harter Tritt in die Rippen die Luft abschnürte. Dann drückte eine Hand sein Gesicht fest in das Erbrochene auf dem Boden. Es drang ihm in Mund und Nase, er konnte nicht mehr atmen.
»Willst du, dass in diesem verfluchten Irrenhaus jeder Idiot anfängt zu randalieren, du verdammter Unruhestifter?«, fauchte Vickery. »Es stinkt hier wie die Pest, aber bilde dir bloß nicht ein, jemand würde um diese Uhrzeit dein Bettzeug wechseln. Von mir aus kannst du verrecken, du elender Scheißkerl. Und wenn ich vor Tagesanbruch auch nur einen Muckser von dir höre, gibt’s die Brause. Kapiert?«
Die Hand drückte so fest zu, dass William sicher war, ihm würde die Nase gebrochen. Dann war es vorbei. Die Tür fiel ins Schloss. William lag am Boden, das kalte Erbrochene auf seinem Gesicht trocknete zu einer klebrigen Schicht. Es war eine frostige, mondlose Nacht, und im Raum herrschte tiefste Dunkelheit und bittere Kälte. Williams Glieder zuckten und zitterten, unter seinen Rippen pochte es. Sein Kopf aber, frei von Chloral, war ungetrübt, und die Gedanken darin lagen da wie Fische in gefrorenem Wasser. Er starrte sie an, beunruhigt und zugleich fasziniert von ihrer vollkommenen Gestalt und Klarheit. Er verlangte nicht nach einer weiteren Dosis Chloral, sondern streckte die Hand nach ihnen aus und drehte und wendete sie. Sie zerfielen nicht. Keine Ungeheuer lauerten darin, nichts Bedrohliches, das ihre Konturen verwischte. Es waren einfache und schlüssige, ganz gewöhnliche Gedanken mit einem Anfang und einem Ende da, wo man es erwartete. Gedanken an Gebäude vor allem, an Orte, die er von früher kannte. Der Laden, in dem er in seiner Jugend so viele Nachmittage verbracht hatte, mit den staubigen Mehlsäcken und dem Geruch der Butter in dem sich drehenden Fass. Die Büros in der Greek Street mit den voll gestopften Arbeitsnischen. Die Kuppel und die eleganten Türme von Abbey Mills, deren Bild sich ihm so präzise ins Gedächtnis eingeprägt hatte, dass es William unmöglich schien, dass sie in Wirklichkeit noch gar nicht existierten. Das Haus in Lambeth. Ganz vorsichtig stellte er sich an den Fuß der Treppe, die Hand auf dem Geländer, und atmete den vertrauten Geruch ein. Noch besaß er nicht den Mut, einen Blick in die Küche zu werfen oder seinen Sohn ausfindig zu machen. Aber er ließ seine Gedanken zu Polly schweifen und sah ihren dicken schwangeren Bauch vor sich. Ein unbändiges Verlangen ergriff ihn, seine Frau und sein ungeborenes Kind in die Arme zu schließen. Aber vielleicht war ja das Baby schon da. Tränen stiegen in ihm auf und milderten den bitteren Geschmack in seinem Mund. Vielleicht war es ein Mädchen. Lily Rose.
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